Neue Broschüre: Globale Klassenkämpfe (2008-2013)

Unsere neue Broschüre: „Globale Klassenkämpfe (2008-2013)“ (ca. 119 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr für 5-€ (inkl. Porto) hier über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.


Inhalt

Einleitung

I. Die globale Klassenspaltung
1. Das Weltproletariat
2. Die Weltbourgeoisie
3. Das globale KleinbürgerInnentum

II. Die Kapitalvermehrung gegen das Weltproletariat
1. Die Bourgeoisie geht über proletarische Leichen
2. Konjunkturprogramme reproduzieren den Kapitalismus
3. Sparprogramme als asoziale Offensiven der Bourgeoisie
4. Staatsterror

III. Gewerkschaftsapparate gegen das Weltproletariat
1. Argentinien
2. Deutschland
3. Südafrika

IV. Streiks und Straßenbewegungen
1. Globale Massenstreiks
2. Globale Straßenbewegungen
3. Streiks in der chinesischen Autoindustrie
4. Der „arabische Frühling“ in Ägypten

V. Der Kampf der MigrantInnen
1. ArbeitsmigrantInnen
2. Der migrantische Kampf gegen nationalstaatliche Repression
3. Solidarität mit unseren migrantischen Klassengeschwistern!

Der „arabische Frühling“ in Ägypten

Das ägyptische Proletariat war vor, während und nach der Regierungszeit Mubaraks sehr klassenkämpferisch. Wir wollen in diesem Kapitel den Klassenkampf des Proletariats in Ägypten zwischen 2011 und 2013 beleuchten. Dieser Klassenkampf war mitunter sehr militant, das Proletariat in Ägypten hat sich aber bislang noch zu keinem sozialrevolutionärem Sein und Bewusstsein hin gekämpft. Noch führt es einen reproduktiven Klassenkampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen im Rahmen von Warenproduktion und Politik, aber noch nicht bewusst für deren revolutionäre Sprengung. So führte der Klassenkampf des Proletariats dazu, dass das ägyptische Nationalkapital in Form von zwei Militärputschen und einer freien demokratischen Wahl das politische Personal auswechselte, weil mit den alten Regierungsformen nicht mehr erfolgreich der Klassenkampf von oben zu führen war. So lange das Proletariat nicht die Politik aufhebt, kann sein Klassenkampf nur dazu beitragen, dass die regierenden Charaktermasken der Politik wechseln…
Doch berichten wir schön der Reihe nach. Inspiriert vom Beginn des „arabischen Frühlings“ in Tunesien – einer gewaltigen sozialen Straßenbewegung, die zwischen Dezember 2010 und Januar 2011 das Staatsoberhaupt Ben Ali zum Rücktritt zwang – entwickelte sich auch in Ägypten ab dem 25. Januar 2011 eine soziale Straßenbewegung in den größten Städten, die sozial vorwiegend vom KleinbürgerInnentum und Proletariat getragen wurde und die sich vor allem gegen die regierende Charaktermaske Ägyptens, Mubarak, richtete. Diese soziale Protestbewegung zwang Mubarak – gegen den anfänglichen gewaltsamen Widerstand „seines“ Repressionsapparates – am 11. Februar 2011 zum Rücktritt. Vom Beginn des „arabischen Frühlings“ in Ägypten bis zum Sturz Mubaraks starben bei diesen sozialen Auseinandersetzungen 846 Menschen.
Im Mittelpunkt der bürgerlichen Betrachtung des „arabischen Frühlings“ in Ägypten stehen die klassenübergreifende Straßenbewegung und sein zentraler Ort, der Tahrir-Platz in Kairo. SozialrevolutionärInnen müssen stattdessen immer die bedeutende Rolle des proletarischen Klassenkampfes beim Sturz Mubaraks betonen. Wie wir schon weiter oben schrieben, ist der Höhepunkt einer sozialen Straßenbewegung der massenhafte Streik der ArbeiterInnenklasse. Das lohnabhängige Proletariat legt die Arbeit nieder und demonstriert auf den öffentlichen Straßen und Plätzen seinen sozialen Widerstand. So war es auch in Ägypten. Gewaltige Massenstreiks, die sich von den Textilfabriken im Nildelta über die Fabriken des Militärs bis zum öffentlichen Dienst erstreckten, zeigten dem Militär deutlich, dass Mubarak gegen das klassenkämpferische Proletariat nicht mehr zu halten war und so setzten sie ihn ab, um das ägyptische Nationalkapital zu retten. Das Militär spielte übrigens schon zur Mubarak-Zeit eine wichtige Rolle in der ägyptischen Wirtschaft. Wir können geradezu von einem Militärkapitalismus in Ägypten sprechen. So besaß und besitzt das ägyptische Militär unter anderem Hotels, Bäckereien und Autofabriken. Um das Nationalkapital im Allgemeinen und sein Besitz im Besonderen gegen das klassenkämpferische Proletariat zu schützen, übernahm das Militär in Form eines Militärrates die unmittelbare politische Herrschaft in Ägypten.
Und das Proletariat? Sowohl innerhalb der klassenübergreifenden Straßenbewegung als auch im proletarischen Klassenkampf gegen das Mubarak-Regime kämpften die Lohnabhängigen vor allem für ihre sozialen Interessen – wenn auch stark belastet mit großen Illusionen und politideologisch stark entfremdet. Viele Menschen in Ägypten reagierten ihre soziale Wut an der regierenden Charaktermaske Mubarak ab, dachten, wenn er weg ist, würde quasi automatisch ein schöneres Leben beginnen. Dass die soziale Befreiung einen konsequenten Kampf gegen das gesamte ägyptische Nationalkapital erfordert, das war nur einer kleinen revolutionären Minderheit in und außerhalb Ägyptens bewusst. So bestand zwar objektiv eine revolutionäre Situation in Ägypten – das Nationalkapital konnte mit den alten politischen Methoden nicht mehr die Ausbeutung des Proletariats organisieren. Doch das Bewusstsein des Proletariats war reproduktiv, es war bereit innerhalb einer klassenübergreifenden Straßenbewegung und auch auf proletarischer Klassenbasis in Form von Streiks für ein besseres Leben zu kämpfen – aber noch innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion und des Staates. Vor und während des „arabischen Frühlings“ war das Proletariat in Ägypten sehr klassenkämpferisch, es hat sich aber noch nicht zu einem sozialrevolutionären Sein und Bewusstsein hin gekämpft. Diese Möglichkeit besteht noch, aber der Weg dorthin wird hart und steinig sein.
Der demokratische Nationalpazifist Jürgen Todenhöfer, der an den Straßendemonstrationen gegen Mubarak in Kairo teilgenommen hatte, gibt uns einen kleinen Einblick – wenn auch einen ideologisch stark entfremdeten – in das widersprüchliche proletarisch-kleinbürgerliche Bewusstsein während des „arabischen Frühlings“ in Ägypten:
„Am Tag nach Mubaraks Rücktritt frage ich ein Dutzend junger Ägypter, was die Revolution ihnen persönlich bringen werde. Alle sind überzeugt, dass sich ihr Einkommen innerhalb des nächsten Jahres verdoppeln oder verdreifachen werde. Dass sie bald eine viel größere Wohnung haben werden als jetzt. Dass alles besser und schöner werde.
Alle setzen Demokratie mit Wohlstand gleich. Alle glauben, dass beides sehr schnell kommen werde. Ich habe nicht widersprochen. Obwohl jede demokratische Regierung schon aufgrund dieser riesigen Erwartungen vor fast unlösbaren Aufgaben stehen wird.“ (Jürgen Todenhöfer, Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden, Bertelsmann Verlag, München 2013, S. 147.)
Genau das waren und sind die proletarischen Illusionen in die Demokratie – nicht nur in Ägypten: Viele Klassengeschwister weltweit glauben noch immer, dass Demokratie mehr wäre als eine herrschaftstechnokratische Form des Kapitals, um die Ausbeutung des Proletariats zu organisieren. Doch die Demokratie hat vor allem eins zu organisieren, nämlich dass proletarisches Elend den Reichtum des Nationalkapitals produziert. Diese demokratischen Illusionen des Proletariats, in denen die sozialen Bedürfnisse politideologisch entfremdet zum Ausdruck kamen, mussten mit den Zielen und Formen der wirklichen Demokratie als kapitalistischer Diktatur in Form von Klassenkämpfen aufeinanderprallen. Diese Klassenkämpfe gehen mit der Möglichkeit schwanger, dass die ProletarierInnen irgendwann nicht mehr für ihre Illusionen in die demokratische Staatsform, sondern prinzipiell gegen alle Staatsformen kämpfen. Eine internationale Föderation sozialrevolutionärer Gruppen muss sowohl in Ägypten als auch weltweit für diese Perspektive kämpfen. In diesem Kampf sind nicht nur die bewaffneten Schlächter der Weltbourgeoisie unsere KlassenfeindInnen, sondern auch nationalpazifistische DemokratInnen wie Todenhöfer, die mit dem Ideal der Demokratie der wirklichen Demokratie als mit Schmutz und Blut besudelter Herrschaftstechnik der Bourgeoisie dienen, und die mit ihrer Nebelproduktion weiterhin der proletarischen Klarheit im Wege stehen. Die einen bürgerlichen Frieden predigen, der in der kapitalistischen Wirklichkeit nichts anderes sein kann als die nichtmilitärische Form des Krieges um Profit, in der die Bourgeoisie massenhaft das Glück, die Gesundheit und das Leben von ProletarierInnen auf das Spiel setzt. Militärischer Frieden zwischen Nationalstaaten ist nichts anderes als eine besondere Form des kapitalistischen Krieges gegen das Proletariat.
Und auch das ägyptische Nationalkapital führte seinen Klassenkrieg gegen das Proletariat fort. Zunächst nicht in Form einer demokratischen und frei gewählten Regierung, sondern in Form einer Militärdiktatur, die den Übergang zum demokratisch gewählten Mursi-Regime organisierte, bevor auch dieses vom Militär wieder weggeputscht wurde. Beschreiben wir diese Entwicklung etwas ausführlicher. Das Militärregime nach dem Sturz Mubaraks geriet sowohl mit der klassenübergreifenden Straßenbewegung als auch mit dem klassenkämpferischen Proletariat aneinander. So verschärfte der regierende Militärrat die Notstandsgesetzte aus der Zeit Mubaraks. Am 31. Mai 2012 hob das Militärregime die Notstandsgesetze offiziell auf, doch deren wichtigsten repressiven Bestimmungen wurden nur in neue juristische Formen überführt. So gingen die klassenübergreifenden Straßenbewegungen gegen den regierenden Militärrat weiter, auf den es immer wieder zu militanten Kämpfen zwischen Demonstrierenden und den staatlichen Repressionsorganen kam. Und auch das Proletariat führte unter der unmittelbaren politischen Herrschaft des Militärs seinen sozialen Klassenkampf fort.
Doch das Militärregime blieb nicht unmittelbar an der Macht. Es organisierte demokratische Wahlen, von denen die IslamistInnen am meisten profitierten. Schon bei den Parlamentswahlen vom 28 November 2011 bis zum Januar 2012 zeichnete sich ab, dass die IslamistInnen für eine gewisse Zeit zu den politischen Hauptgewinnern des „arabischen Frühlings“ in Ägypten zählen würden. So gewannen die islamistischen Parteien zusammen mehr als 70 Prozent der Stimmen. Wahlgewinner waren die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, der politische Arm der Muslimbruderschaft, und deren Bündnispartner in der Demokratischen Allianz. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai und Juni 2012 setzte sich der Kandidat der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, Mohammed Mursi, mit 51,7 Prozent der Stimmen durch. Nun gab es auf der politischen Bühne Ägyptens sowohl die Kooperation als auch die Konkurrenz zwischen politischer Regierung und Militärführung zu sehen. Dies war die politische Widerspiegelung des sozialökonomischen Konkurrenzkampfes zwischen dem Militärkapital und einer islamistischen Bourgeoisie.
Das Mursi-Regime betrieb die Islamisierung Ägyptens voran – gegen eine politische Opposition aus Liberalen, NationalistInnen und Linken. „Doch die Stimmung kippte. Erst im Dezember 2012 hatte Mursi eine neue Verfassung durch die Institutionen gepeitscht und das Dokument per Referendum von Ägyptens Bevölkerung absegnen lassen. Die ,Partei für Freiheit und Gerechtigkeit‘ (FJP), der politische Arm der Bruderschaft, und die salafistische Partei ,Das Licht‘ hatten in der damaligen verfassungsgebenden Versammlung über eine absolute Mehrheit verfügt und trotz breiter Proteste der Opposition eine religiöse Prägung ihres Entwurfs durchgesetzt. Von den darauffolgenden Unruhen im Land im Dezember 2012 sollte sich der damals schon angezählte Präsident nicht mehr erholen. Mursi hatte mit seiner Kompromisslosigkeit endgültig sämtliche politische Kräfte gegen sich aufgebracht. Im April 2013 lancierten aus der Mittelschicht stammende Gegner von Bruderschaft und Präsident die Kampagne ,Tamarud‘, was im Arabischen für Rebellion steht – eine Unterschriftensammlung für Mursis Absetzung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Dem schlossen sich Parteien und Menschenrechtsgruppen an und formierten eine breite politische Front gegen die Regierung“ (Sofian Philip Naceur, Aufstieg und Sturz der Muslimbrüder, in: junge Welt vom 2. Januar 2014, S. 7.) Aber eine „breite politische Front“ kann nur den Staat auf erneuerter Grundlage – mit neuen Gesichtern als deren politischen ManagerInnen – reproduzieren und damit die Ausbeutung des Proletariats durch das Kapital.
Doch die Muslimbruderschaft betrieb nicht nur die Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft voran, sondern führte auch vor allem den Klassenkampf von oben gegen das Proletariat. Dass musste sie auch, denn jetzt managte sie politisch den ideellen Gesamtkapitalisten. Das Proletariat wehrte sich dagegen in Form des Klassenkampfes. So verwob sich auch während der politischen Herrschaft der Muslimbrüder die politische Instrumentalisierung von Teilen des Proletariats durch die politische Opposition mit dem eigenständigen Klassenkampf der Lohnabhängigen im Produktionsprozess.
Raoul Rigault schrieb über die Verschärfung des proletarischen Klassenkampfes Ende 2012 in Ägypten:
„Neuesten Erhebungen des Egyptian Center for Economic and Social Rights (CESR) zufolge gab es allein in der ersten Septemberhälfte (2012) 300 betriebliche Proteste. Das ist der höchste Wert seit Jahresbeginn. Hintergrund sind vor allem Forderungen nach höheren Löhnen, besseren Bedingungen, langfristigen Verträgen sowie die Rehabilitierung und Wiedereinstellung von Kollegen, die im Laufe vergangener Aktionen entlassen oder vor Gericht gestellt wurden. Die meisten Arbeitsniederlegungen gab es mit 131 im öffentlichen Dienst, gefolgt von der Industrie (61), Schulen (41), Universitäten (21), Transportwesen (11) und den Krankenhäusern (10). Doch selbst Teile der Polizei und Imame von Moscheen waren nicht immun.
Nach Einschätzung des Vorstandsvorsitzenden der Textilholding Arafa, Alaa Arafa, handelt es sich um eine Form von ,sozialer Rache‘. Die vielen wilden Streiks seien ,sehr störend fürs Geschäft‘ und schadeten Ägyptens Reputation als sicherer Ort für Investitionen. ,Wir brauchen irgendeine Art von Kommunikation mit den Arbeitern. Wir müssen die Ausstände regulieren‘, meint der Konzernchef. Diese Ansicht teilt inzwischen die regierende Moslembruderschaft. Dass auch die Nasr Company, ein wichtiger Bestandteil des Wirtschaftsimperiums der Armee, bestreikt wird, dürfte diese Erkenntnis befördert haben. Die Belegschaften des sieben Fabriken umfassenden Konglomerats fordern zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Absetzung des Firmendirektors Generalmajor Mounir Labib sowie aller anderen Offiziere und Managerposten.
Während die Regierung an einem Gesetzentwurf zur Regulierung des Streikrechts arbeitet, legen die ausführenden Organe bereits heute kräftig Hand an. Nach einem Anfang Oktober veröffentlichten Bericht der beiden unabhängigen Gewerkschaftsbünde EFITU und EDLC über die Repression ,greift die Regierung auf dieselben Taktiken zurück wie das alte Regime‘. 32 ihrer Kader wurden wegen der Organisierung von Streiks angeklagt und fünf weitere bereits zu drei bis fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Zahl derjenigen, gegen die ermittelt wurde, geht in die Hunderte.
Doch auch von den Unternehmen bezahlte Schlägertrupps und die berüchtigte Bereitschaftspolizei kommen zum Einsatz, wie unter anderem die Kairoer Busfahrer Mitte September erfahren mussten. ,Streik stellt bislang kein Verbrechen dar‘, erklärt ihr Anführer Tarek Al-Beheiry, der drei Tage lang inhaftiert wurde. ,Aber das Wort ist im offiziellen Sprachgebrauch zu einem Synonym für selbstsüchtiges und fehlgeleitetes Verhalten geworden, das zur Zerstörung des Staates führt.‘
Einschüchtern lassen sich die Betroffenen davon immer weniger. Das bewiesen Ende Oktober Hunderte Hafenarbeiter, die in einen zweiwöchigen Ausstand in dem nahe Suez gelegenen Touristengebiet Ain Sukhna traten. Indem sie einen der wichtigsten Häfen des Landes lahmlegten, zwangen sie den in Dubai beheimateten Hafenbetreiber DP World dazu, acht entlassene Kollegen wieder einzustellen. Der Kairoer Professor für Arbeiterrecht und ehemalige Arbeitsminister Ahmed Hassan Al Boraj warnte angesichts der sich zuspitzenden Entwicklung auf einer Konferenz des Nationalen Wettbewerbsrates ENCC vor einer drohenden sozialen Revolution: ,Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt, dass die durch die Gewaltanwendung gegen streikende Arbeiter verursachte soziale Unruhe eines Tages eskalieren und zu einem Feuer werden könnte, das nicht mehr zu löschen ist.‘“ (Raoul Riggault, Streikwelle am Nil, in: junge Welt vom 6. November 2012, S. 15.)
Als sich die soziale Wut der ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen auf das Regime der Muslimbrüder enorm steigerte und sich Ende Juni 2013 in einer gewaltigen Straßenbewegung Ausdruck verschaffte, sah das Militär wieder einmal seine Zeit gekommen, um in die sozialen Auseinandersetzungen einzugreifen. Die Muslimbruderschaft war außerstande weiterhin erfolgreich den Klassenkampf von oben zu führen. Ihr instabiles Regime gefährdete das gesamte ägyptische Nationalkapital. Um diesem wieder die nötige Stabilität zu verleihen, und auch um einen politischen Konkurrenten loszuwerden, stürzte das Militär am 3. Juli das Mursi-Regime. Seit diesem Sturz tobt der blutige Machtkampf zwischen Militär und Muslimbruderschaft. Beiden Kräften gelingt es in dieser innerkapitalistischen Auseinandersetzung massenhaft sich auf KleinbürgerInnen und ProletarierInnen zu stützen, die in einem Kampf für kapitalistische Interessen verheizt werden. Große Teile der ehemaligen politischen Opposition gegen das Regime der Muslimbruderschaft – also der NationalistInnen, Liberalen und Linken –unterstützten im innerkapitalistischen Machtkampf das Militär gegen die IslamistInnen. Doch die internationale politische Linke ist ja dafür bekannt, dass sie das Proletariat für innerkapitalistische Konflikte mobilisiert und damit ein struktureller Klassenfeind des Proletariats ist.
Aber auch der proletarische Klassenkampf für eigene Ziele geht weiter. Denn auch in Ägypten gilt die allgemeine Notwendigkeit des Kapitalismus: Die Regierungen kommen und gehen, doch die ArbeiterInnen werden ausgebeutet. Sie müssen sich wehren, um ihre elementarsten Bedürfnisse befriedigen zu können. Deshalb sieht sich auch jede Regierung mit dem proletarischen Klassenkampf konfrontiert, der mal stärker, mal schwächer, mal offen, mal versteckt geführt wird, aber niemals ganz erlischt. Das Proletariat Ägyptens ist sehr klassenkämpferisch. Weder die Militärs noch die Muslimbruderschaft konnten die sozialen Bedürfnisse des Proletariats erfüllen – und es gelang ihnen auch nicht den Klassenkampf in Repression zu ersticken.
Gerrit Hoekman beschrieb den Klassenkampf der TextilarbeiterInnen nach dem Sturz der Muslimbruderschaft:
„Die Textilarbeiter der ägyptischen Stadt Al-Mahalla sind für ihren Kampfgeist bekannt. Hier begann im April 2008 der größte Generalstreik in der 30jährigen Ära Hosni Mubarak. Viele Ägypter zeigten sich damals solidarisch mit den streitbaren Malochern aus dem Nildelta. Auf den Straßen lieferten sich Demonstranten heftige Straßenschlachten mit der Polizei. Der Ausstand gilt in Ägypten als Anfang vom Ende der Herrschaft Mubaraks, die am 25. Januar 2011 endete.
Seit Montag (26. August 2013) streiken die Arbeiter von Al-Mahalla wieder. 10 000 Beschäftigte der ,Ghazl Al Mahalla‘, der mit insgesamt 24 000 Arbeitern größten Textilfabrik des Landes, erscheinen nicht mehr am Arbeitsplatz. Der Grund: Die Firma, die sich im Staatsbesitz befindet, hat ihnen erst die Hälfte der ihnen zustehenden Gewinnbeteiligung ausgezahlt. Es geht dabei um einen Bonus, der dem Lohn von anderthalb Monaten Arbeit entspricht. Eigentlich sollten sie den Betrag Anfang des Monats in der Lohntüte haben, doch der Staat hat angeblich kein Geld. ,Das Finanzministerium hat die Zahlung aufgrund der momentanen ökonomischen Situation verschoben‘, erklärte ein Vertreter der Firmenleitung in der großen Tageszeitung Al Ahram aus Kairo. ,Ich kann nicht genau sagen, wann das Geld verfügbar ist, aber es wird nicht länger als ein paar Tage dauern.‘
Doch die Arbeiter wollen sich nicht mehr vertrösten lassen. Bereits vor vier Wochen haben sie gestreikt, und kehrten erst an die Maschinen zurück, als die Fabrik die Zahlung zusicherte. Doch bis jetzt haben sie nur 50 Prozent ihrer Forderungen erhalten. Deshalb wird auch der Ruf nach einer Absetzung von Firmenchef Fuad Abd Al-Alim lauter. Auch den Betriebsrat, der aus Mitgliedern einer staatlichen Gewerkschaft besteht, wollen die Streikenden auflösen. Die Arbeitervertreter hätten sich mehr für die Interessen des Managements eingesetzt, als für die Belegschaft.
Fabrikchef Abd Al Alim war bereits kurz nach dem Sturz Mubaraks im Januar 2011 seines Postens enthoben worden, wurde jedoch später durch die Regierung wieder eingesetzt. Angeblich soll er sich einen großen Teil der Gewinne in die eigene Tasche gesteckt haben. ,Die Entlassung von Fuad Abd Al-Alim ist eine wesentliche Forderung. Wir kennen ihn nur zu gut. Der Betrieb wird nicht florieren, solange er auf seinem Posten bleibt‘, zitiert Al Ahram den in Arbeitskämpfen erfahrenen Streikführer Kamal Al-Fayumi. Die Firmenspitze will von einer Absetzung allerdings nichts wissen: ,Es ist nicht die Aufgabe der Arbeiter darüber zu entscheiden, wer zurücktreten soll, das ist die Verantwortung des Staats.‘
Al Ahram berichtet, dass die Beschäftigten und der Militärgouverneur von Al Mahalla als Vertreter der Regierung inzwischen Verhandlungen aufgenommen haben. Gleichzeitig berichten Arbeiter am Dienstag (27. August 2013) auf der Internetseite ,MENA Solidarity‘, dass die Armee in der Umgebung der Fabrik Panzer aufgefahren habe.
Der Staatskonzern schreibt seit geraumer Zeit rote Zahlen, jeden Monat fast vier Millionen Euro, heißt es bei Al Ahram. Die Produktion steht oft still, weil die Fabrik nur noch knapp die Hälfte ihres Bedarfs an Baumwolle auf dem ägyptischen Markt decken kann. Nachdem die Übergangsregierung im Oktober 2011 die Einfuhr ausländischer Baumwolle unterbunden hat, um die Bauern im eigenen Land zu schützen, sind die Preise enorm gestiegen. Die Produktionskosten für die Textilindustrie sind inzwischen so hoch, dass ägyptische Kleidung auf dem Weltmarkt nicht mehr gegen die in Asien hergestellten Billigprodukte mithalten kann, berichtet der ,Gesamtverband der deutschen Maschenindustrie‘. Das ist erheblicher gesellschaftlicher Sprengstoff, denn immerhin arbeitet rund ein Drittel der Ägypter in der Textilindustrie. Doch der Industriezweig – Ägyptens ganzer Stolz – ist seit langem auf dem absteigenden Ast. Es gab Zeiten, da hatte ,Ghazl Al –Mahalla‘ 100 000 Beschäftigte.“ (Gerit Hoeckmann, Nicht mehr vertrösten lassen, in: junge Welt vom 29. August 2013, S. 6.)
Einen Eindruck von der Militanz des Klassenkampfes in Ägypten vermittelt auch folgender Zeitungsartikel: „Am Freitag (1. November 2013) haben in Giza, einem Stadtteil der ägyptischen Hauptstadt Kairo, mehrere entlassene Hotelmitarbeiter mit Gewalt versucht, an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Die Website des staatlichen Fernsehens meldete, die Arbeiter hätten dabei auch mehrere Schüsse auf das Hotel an der Pyramidenstraße abgegeben. Verletzt worden sei niemand. Wegen der gesunkenen Urlauberzahlen haben zahlreiche Tourismusbetriebe Angestellte entlassen.“ (Ägypten: Arbeiter schießen auf Hotel, in: junge Welt vom 2./3. November 2013, S. 7.) TouristInnen blieben vor allem wegen dem blutigen innerkapitalistischen Konflikt zwischen Militär und Muslimbruderschaft aus, der unter anderem vom Tourismusproletariat mit Arbeitslosigkeit bezahlt wird. So haben zwischen dem Sturz Mubaraks und Ende 2013 40 Prozent der Beschäftigten in der Tourismusbranche ihren Arbeitsplatz verloren.

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