Neue Broschüre: Reformation und städtisch-bäuerliche Revolten

26. April 2024

Unsere neue Broschüre „Reformation und städtisch-bäuerliche Revolten I“ (ca. 140 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

I. Die europäische Übergangsperiode vom Feudalismus zum Industriekapitalismus

1. Der europäische Feudalismus

2. Die kleinbürgerliche Warenproduktion in den Städten

3. Das Handelskapital

4. Das Verlagssystem

5. Die kapitalistische Ausbeutung der Lohnarbeit

6. Die Manufakturen

7. Die Verbürgerlichung des Grundbesitzes und die Entwicklung des Agrarkapitalismus

8. Die politische Herrschaft des Handelskapitals in den Städten

9. Der Absolutismus

10. Die europäische als Teil der globalen Übergangsperiode zum Industriekapitalismus

II. Die Reformation

1. Die christliche Religion

2. Die christlichen Kirchen als in die Staaten integrierte Ausbeuterorganisationen

3. KetzerInnen

4. Die Hussiten-Bewegung

5. Martin Luther

6. Die Revolte des Kleinadels

7. Die Reformation durch die Obrigkeiten

8. Die relative innerweltliche Askese der Reformation als Ideologie der Kapitalvermehrung

9. Der kleinbürgerlich-radikale Flügel der Reformation

10. Die Entwicklung des kleinbürgerlichen Radikalismus nach der Reformation

11. Die proletarisch-revolutionäre Überwindung der Religion

12. Die sozialrevolutionäre Zerschlagung der christlichen Kirchen

III. Die kleinbürgerlich-radikale Reformation in den Städten

1. Armer Konrad

2. Die kleinbürgerlich-radikale Reformation in den Städten vor und während der

bäuerlichen Revolten von 1524-1526

3. Das Täuferreich von Münster

IV. Bäuerliche Revolten

1. Die Bundschuh-Bewegung

2. Die Entwicklung bäuerlicher Revolten während der Reformation (1524-1526)

3. Der Verlauf der bäuerlichen Revolten

4. Die zwölf Artikel von Memmingen

5. Die Ideologie der bäuerlichen Revolten

6. Die Folgen der Niederschlagung der bäuerlichen Revolten

8. Die relative innerweltliche Askese der Reformation als Ideologie der Kapitalvermehrung

Zum Kern des klassischen Calvinismus gehört die Ideologie der doppelten Prädestination. Nach dieser legte Gott in seinem ewigen Ratschluss bereits vor der Erschaffung der Welt fest, welche einzelne Menschen von Gott erwählt und welche der ewigen Verdammnis zum Opfer fallen würden. Dieser erbarmungslose Gottesfetischismus, der den einzelnen Menschen völlig zum ohnmächtigen Spielball einer eingebildeten göttlichen Macht machte, passte zur „Kirchenzucht“ des Calvinismus wie die Faust auf das Auge.

Die calvinistische Ideologie der doppelten Prädestination entsprach der Erfahrung von KapitalistInnen und KleinbürgerInnen, dass die „unsichtbare Hand des Marktes“, der Gott der Warenproduktion, durch das Chaos von Angebot und Nachfrage über Preise und Sein oder Nichtsein entschied. Das Auf und Ab von Konjunkturen ließ einzelne kapitalistische und kleinbürgerliche Marktsubjekte in gewaltige Höhen aufsteigen – und in finstere Tiefen hinabstürzen. Gott Markt war verdammt launisch! Er beherrschte seine Objekte – KapitalistInnen, KleinbürgerInnen und ProletarierInnen – absolut totalitär.

Die bürgerlichen Subjekte, die weniger die kapitalistischen Produktions- und Marktverhältnisse beherrschten, als dass sie von diesen beherrscht wurden, produzierten und reproduzierten im Calvinismus unterbewusst einen Gottesfetischismus, der ihre „unsterbliche Seele“ nach ihrem Tode eine ähnliche Ungewissheit aussetzte wie ihre ökonomische Existenz im Kapitalismus. Für die KapitalistInnen sowie die produktionsmittel- und handelsmittelbesitzenden KleinbürgerInnen hieß die weltliche Frage: Wirtschaftserfolg oder Ruin? Für die kleinbürgerlichen und proletarischen Lohnabhängigen: Einen erträglichen Arbeitsplatz oder die Erwerbslosigkeit? Während sich für die Marktsubjekte als gläubige ChristInnen die Frage stellte: Ist meine unsterbliche Seele für den Himmel auserwählt oder zur Hölle verdammt?

Für den Calvinismus stand ja fest, dass Gott diese Frage für jeden Einzelnen und jede Einzelne schon lange vorherbestimmt hatte und es unwiderruflich feststand. Damit setzte er seinen Gläubigen eine psychisch-mental quälende Frage aus: Vorher weiß ich, dass ich auserwählt bin? Diese Frage stellte sich aufgrund der vom ChristInnentum systematisch erzeugten Angst vor den Höllenqualen (siehe Kapitel II.1), die der Katholizismus durch Beichten, Ablassbriefe und „gute Werke“, das Luthertum durch einen starken Glauben kompensierte. Die calvinistische Seelsorge verpflichtete die Gläubigen dazu, sich für auserwählt zu halten und jeden Zweifel daran als Anfechtung des Teufels zurückzuweisen. So ähnlich wie erfolgreiche Marktsubjekte psychisch-mental fest an ihren Erfolg glauben müssen, um erfolgreich sein zu können. Dieser Glaube reicht allerdings nicht, die „unsichtbare Hand des Marktes“ hat da auch noch ein entscheidendes Wort mitzureden. So wie das eingebildete Auserwähltsein der unsterblichen Seele für den Himmel oder deren ewige Verdammnis für die Hölle Gott nach der calvinistischen Ideologie schon lange entschieden hatte.

Außerdem löste der Calvinismus die theologische Frage, wie der oder die Einzelne sich des Auserwähltseins sicher sein kann, auf eine für die Kapitalvermehrung optimale Weise: An einem erfolgreich wirtschaftlichen Leben erkennt der ChristInnenmensch, dass er auserwählt sei. Er kann also durch „gute Werke“ nicht sein Auserwähltsein kaufen, aber er kann ökonomischen Erfolg als Zeichen dafür annehmen. Die Angst vor Höllenqualen trieb die gläubigen CalvinistInnen in das rastlose Erwerbsleben – zum Wohle des Seelenheils und der Kapitalvermehrung.

Auch entsprach die relative innerweltliche Askese des Calvinismus den Notwendigkeiten der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals. Der sozialökonomische Aufstieg von KleinbürgerInnen und die ursprüngliche Entstehung großer kapitalistischer Unternehmen und Nationen verlangte nach einer psychisch-mentalen Prägung der Menschen, die nicht im Verprassen des Geldes, sondern in seiner grenzenlosen Vermehrung, also indem der Mehrwert größtenteils wieder in das Geschäft investiert wird, den Sinn des Lebens sieht. Ein Geldfetischismus, der den verselbständigten Ausdruck des Tauschwertes nicht größtenteils verprasst, sondern diesen grenzenlos zu vermehren sucht – das ist die Ethik des Kapitalismus. Besonders bei KleinbürgerInnen und -kapitalistInnen beziehungsweise bei sich erst herausbildenden kapitalistischen Nationen ist also eine relative innerweltliche Askese erforderlich, die der grenzenlosen Vermehrung des Geldes eindeutig über den Lebensgenuss stellt.

Die relative innerweltliche Askese der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals bei Einzelwirtschaften und ganzen Nationen ist etwas anderes als die katholische Askese und Weltabgewandtheit, wie sie zum Beispiel in Klöstern kultiviert wurde und wird. Ganz in der kapitalistischen Welt stehende KleinbürgerInnen, -kapitalistInnen und aufstrebende Nationen „verzichten“ relativ auf gewisse Lebensgenüsse, um das Kapital zu vermehren. Dieser gewisse materielle „Verzicht“ verlangt nach einer psychisch-mentalen Kompensation, die die Not zur Tugend erklärt, damit diese aus- und durchgehalten werden kann. Diese Not war bei der Herausbildung kapitalistischer Nationen bei vielen KleinbürgerInnen und LohnarbeiterInnen absolut, während sie bei KleinkapitalistInnen relativ war. Sich entwickelnde kapitalistische Nationen vermehren ihr Nationalkapital, indem sie an dafür „Unwesentlichen“ sparen.

Diese absolute und relative Not der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals erklärte die innerweltliche Askese des Protestantismus in calvinistischer und puritanischer Form zur religiösen Tugend. Die protestantische Askese ist keine Heiligsprechung der absoluten Armut, sondern die Adelung einer gewissen Zurückhaltung in der persönlichen Lebensführung, um den einzelwirtschaftlichen und nationalen Reichtum zu vermehren. In den Worten von Calvin: „Gott hatte in seiner väterlichen Großzügigkeit den Menschen auch Quellen des Genusses geschenkt; sie zu verschmähen, hieß den Willen des Schöpfers zu missachten. (…) Doch eben in Maßen und das hieß: in streng geordneten Bahnen. Was sie verließ, war Exzess und Anstoß.“ (Zitiert nach Volker Reinhardt, Die unmögliche Mission. Calvin und Genf 1541-1564, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 56 (2009), S. 141.)

Ein Genuss in Maßen – genau das erfordert die Kapitalvermehrung auch von KleinbürgerInnen, -kapitalistInnen und sich entwickelnden kapitalistischen Nationen. Der Calvinismus entsprach so sehr den ideologischen Anforderungen einer ursprünglichen Anhäufung eines Nationalkapitals, dass er in den Niederlanden zur Ideologie der Nation wurde. Das Land, wo der Kapitalismus zur Zeit der Reformation in Europa am höchsten entwickelt war, war im 16. Jahrhundert noch Teil von Spanien. Der Calvinismus war die nationalreligiöse Abkehr der Niederlande von dem katholischen Spanien, die im Spanisch-Niederländischen Krieg (1568-1648) – den wir in der Broschüre Antiabsolutistische Revolte und bürgerliche Konterrevolution genauer beschreiben werden – zur materiellen Gewalt der Herausbildung der damals führenden kapitalistischen Nation wurde.

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In England und in Nordamerika/USA wurde die protestantische Ideologie des Puritanismus zu einer wichtigen Ideologie der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals. Sehen wir uns zunächst die Reformation sowie die Entstehung und Entfaltung des Puritanismus in England an.

In England trennte sich die absolute Monarchie (siehe Kapitel I.9) im Jahre 1531 aus politischen Gründen von der römisch-katholischen Kirche. Der Papst war nicht bereit dazu gewesen, die Ehe von König Heinrich VIII. mit Katharina von Aragon annullieren zu lassen, um ihn eine neue Ehe zu ermöglichen. So wurde die englische Monarchie zur Schöpferin einer nationalen Kirche. Dies festigte den sich entwickelnden Nationalismus, zunächst unter absolutistischen Vorzeichen. Im Jahre 1534 wurde durch die Suprematsakte die Kirche von England gegründet. In dieser sollte der Monarch als Oberhaupt („supreme head“) wirken. Allerdings war mit der nationalreligiösen Trennung Englands von Papst am Anfang noch keine Änderung von Lehre, Liturgie und Kirchenverfassung verbunden.

Dies änderte sich erst unter der Herrschaft von Heinrichs Sohn Edward VI. Ab 1546 wurden größere kirchliche Reformen durchgeführt. Beispielsweise 1549 das erste Book of Common Prayer als Grundlage des volkssprachlichen Gottesdienstes und 1552 die Zweiundvierzig Artikel als reformatorische Bekenntnisschrift. Ab 1553 regierte in England mit der Königin Maria Tudor die katholische Gegenreformation. Diese wurde aber bereits 1558 beendet, als ihre Halbschwester Elisabeth I. zur englischen Monarchin wurde. Unter der neuen Königin wurde die anglikanische Bischofskirche wieder hergestellt. 1563 wurden auf der Grundlage der 42 Artikel die 39 Artikel verfasst und 1571 von Elisabeth I. anerkannt. Durch diese Reform bekam die Kirche von England ein moderat calvinistisches Antlitz.

Dies reichte den oppositionellen Bourgeois und KleinbürgerInnen nicht. Sie entwickelten im Gegensatz zur Krone und Staatskirche eine eigenständige Form des Gottesfetischismus, den Puritanismus. Dieser war die Ideologie der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals in England. Otto Rühle schrieb über Herausbildung und Spaltung des Puritanismus im 16. und 17. Jahrhundert: „Die Industriewirtschaft folgt andern Gesetzen als die Agrarwirtschaft. Diese findet ihre Basis im Grund und Boden. Das Lebenselement der ersteren aber ist das Geld. Besitz von Geld ist die Voraussetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise; Verfügungsgewalt über Geld entscheidet über den Wirtschaftserfolg. Die Puritaner, an der neuen Produktionsweise interessiert, erkannten die ungeheure Wichtigkeit des Geldes. Als Kinder der Lollardenbewegung (Anmerkung von Nelke: siehe Kapitel II.3) übten sie Sparsamkeit, Bedürfnislosigkeit, Enthaltsamkeit, Askese als soziale Tugenden. Prasserei, Luxus, Müßiggang galten ihnen als Sünde, genau gesagt: als Sünde gegen den Geist einer erfolgreichen wirtschaftlichen Lebensführung. Und gegen diese Sünde eiferten sie mit der Besessenheit einer großen Überzeugung. Damit aber gerieten sie in scharfen Gegensatz zu Adel und hoher Geistlichkeit, deren Leben Luxus und Müßiggang waren. (…)

Unter Elisabeth, die 1558 auf Maria folgte, wurde die anglikanische Bischofskirche wiederhergestellt und der Protestantismus damit wieder legitimiert. Ein Gebot der Zweckmäßigkeit ließ es ihr geraten erscheinen, sich auf das protestantische Bürgertum zu stützen und durch die hierarchische Kirchenverfassung eine zuverlässige Institution zur Verteidigung ihres Thrones zu schaffen, der ihr von Maria Stuart, der Tochter des schottischen Königs, und ihrer katholischen Anhängerschaft streitig gemacht wurde. Sie ließ auch den dogmatischen Gehalt der Kirche revidieren und in 39 Glaubensartikeln zusammenfassen, die noch heute das Grundgesetz der anglikanischen Rechtgläubigkeit darstellen. Unter den Puritanern, die diese Neuordnung ebenso heftig verwarfen und bekämpften wie die Katholiken, bildeten sich zwei Richtungen heraus. Die große Mehrheit, besonders aus Angehörigen der besitzenden Klasse gebildet, war grundsätzlich mit der Staatskirche einverstanden, erkannte auch die Zwangsgewalt als notwendig an; dagegen lehnte sie die Episkopalverfassung, also das beamtete Priestertum und die hierarchische Verwaltung, ab und setzte ihr die Forderung nach gewählten Laienältesten, wie sie die christliche Gemeinde vor Paulus aufgewiesen hatte, entgegen. Diese Richtung wurde als Presbyterianertum (von Presbyter = der Älteste) bezeichnet. Die radikale Richtung, deren Minderheit sich mehr aus proletarischen und kleinbürgerlichen Elementen zusammensetzte, wollte überhaupt keine Staatskirche; ihr schwebte ein Bund freier kirchlicher Gemeinden vor, die ihre Angelegenheiten unabhängig (englisch: independent) von Staat und untereinander regelten. Sie bekam den Namen Independenten und spielte im Kampfe gegen die Verfolgung durch den Absolutismus und für die freiheitlichen Interessen des Bürgertums eine führende Rolle. Ihr Kampfplatz war in erster Linie das Parlament.“ (Otto Rühle, Die Revolutionen Europas. Erster Band, a.a.O., S. 224-226.)

Bevor wir uns den politisch-militärischen Kampf zwischen Bourgeoisie und der absoluten Monarchie genauer ansehen, wollen wir uns noch ein wenig genauer dessen religiösen Ausdruck ansehen. Die englische Staatskirche war gemäßigt protestantisch, während die PuritanerInnen radikale ProtestantInnen waren. Gegen PuritanerInnen, die nicht zur äußeren Konformität mit der Kirche von England bereit waren, ging die Monarchie mit Hilfe von Gesetzen aus dem Jahre 1593 repressiv vor. Der Absolutismus, deren religiös-ideologischer Ausdruck die englische Staatskirche war, war eine Staatsform des Überganges vom Feudalismus zum Industriekapitalismus (siehe Kapitel I.9). Der zentralistische Staatsaufbau war im ökonomischen und politischen Interesse der Bourgeoisie. Der absolute Machtanspruch der MonarchInnen war es nicht. Und auch nicht die reiche Staatskirche. Sie wollte einen Staat und eine Kirche, die nicht das Geld verprassten, sondern als politisch-ideologische Apparate der Kapitalvermehrung agierten, was eine gewisse „Sparsamkeit“ erforderte. Die Ökonomie Englands war im 16. Jahrhundert schon wesentlich kapitalistisch. Politik und religiöse Ideologieproduktion waren nach den Interessen der Bourgeoisie noch nicht ausreichend kapitalistisch.

Dem absoluten Machtanspruch der MonarchInnen stellte die Bourgeoisie ab dem 16. Jahrhundert den Anspruch ihrer parlamentarischen Kontrolle entgegen. Besonders das für die Bourgeoisie wichtige parlamentarische Recht der Steuerbewilligung, was vom König bestritten wurde, wurde zum politischen Kampffeld zwischen Kapital und Staat. Die MonarchInnen versuchten das Parlament bei der Gelderwerbung für den Staat zu umgehen, was vom letzteren als „ungesetzlich“ bekämpft, aber von der Staatskirche religiös legitimiert wurde. Nach dieser war der Monarch nur gegenüber Gott verantwortlich. Nach dem Gottesfetischismus der bürgerlichen PuritanerInnen war der König jedoch der größte Sünder. Politischer und religiöser Kampf zwischen Bourgeoisie und absoluter Monarchie vermischten und verschärften sich im frühen 17. Jahrhundert.

Rühle schrieb über die „Kanzelreden der anglikanischen Kirche“, „die, einem höheren Winke folgend, als Stimmungsmacher für den König mobilisiert wurden. Der König sei absoluter Herr über den Besitz der Untertanen, plärrten die Pfaffen; Steuerzahlen sei Gottesdienst und Beweis der Gottesfurcht; wer Steuern verweigere, verfalle ewiger Verdammnis. Durch solche Bearbeitung der Gemüter suchte man die Zahlungswilligkeit der lieben Untertanen zu erwirken, die sich, besonders in bäuerlichen Bezirken, mit großer Hartnäckigkeit gegen die ungesetzlichen Steuern und Zwangsanleihen wehrten, womit der König sich finanziell über Wasser zu halten suchte. Aber der Erfolg war gering; die Gefängnisse füllten sich mit Steuerverweigerern; arme Proletarier, die nicht zahlen konnten oder wollten, wurden ins Heer oder in die Marine gepresst; in den Dörfern kam es zwischen Bauern und Steuereintreibern zu blutigen Krawallen.

Die Puritaner im ganzen Lande hielten den Nacken steif gegen die königliche Gewalt. Sie waren fromme, ehrbare Leute und hatten gute Beziehungen zu ihrem Herrgott. Wenn sich der König auf Gott berief und auf sein Gottesgnadentum verwies, so schüttelten sie den Kopf. Ihre Auskünfte über Gottes Willen und Meinung lauteten anders. Nach ihrer Auffassung stand Gott auf ihrer Seite. Und sie fanden diese ihre Auffassung bestätigt durch ihren Geldbeutel, dessen Tendenz durchaus gegen den König war.“ (Otto Rühle, Die Revolutionen Europas. Erster Band, a.a.O., S. 252/253.)

Im englischen BürgerInnenkrieg (1642-1649) wurde der Konflikt zwischen dem Parlament, dass von der puritanischen Bourgeoisie dominiert wurde, und der absoluten Monarchie in Form von König Karl I. militärisch ausgetragen. Während die gemäßigten Puritaner (Presbyterianer), die einem Kompromiss mit dem König nicht abgeneigt waren, das Parlament beherrschten, dominierten die radikalen Puritaner (Independenten) als antimonarchistisch-republikanische Fraktion der Bourgeoisie das Parlamentsheer. Zum Führer der Independenten entwickelte sich Oliver Cromwell. Während des BürgerInnenkrieges entfaltete sich der Konflikt zwischen Presbyterianer und Independenten als innerer Fraktionskampf der puritanischen Bourgeoisie. Außerdem entwickelte sich an der Basis des Parlamentsheeres die Bewegung der Levellers als kleinbürgerlicher Radikalismus (siehe Kapitel II.10). Der englische BürgerInnenkrieg endete mit der Reinigung des Parlaments von den Presbyterianern durch die Independenten, die Hinrichtung des Königs und der Proklamation der Republik am 19. Mai 1649.

Die militärisch-politische Eroberung des englischen Staates durch die Independenten unter Cromwell war der Höhepunkt der antiabsolutistischen Revolte und zugleich der Umschlagmoment in die bürgerliche Konterrevolution. Die bürgerliche Republik ging konterrevolutionär gegen die kleinbürgerlich-radikalen Levellers und ihre religiös-kommunistische Abspaltung, die Diggers (siehe Kapitel II.10), vor. Der sozialreaktionäre Charakter des republikanischen Nationalstaates England als Machtinstrument der englischen Bourgeoisie wurde auch durch die imperialistischen Kriege gegen Irland, Schottland und den größten Handelskonkurrenten, die kapitalistische Republik Niederlande, deutlich.

Cromwell war also während der bürgerlichen Konterrevolution toleranzlos-repressiv gegen die Levellers und Diggers vorgegangen, um die kapitalistische Republik gegen die sozialen Ansprüche und Bedürfnisse der KleinbürgerInnen und ProletarierInnen zu verteidigen. Doch jede erfolgreiche größere bürgerliche Konterrevolution geht in eine länger andauernde innerbürgerliche Sozialreaktion über. So wurde die parlamentarische Republik schleichend in eine Militärdiktatur mit Cromwell als führenden Kopf und Säbel transformiert. Diese nur schlecht verhüllte Militärdiktatur fand 1653 in der Schaffung des Protektorats mit Cromwell als Lord-Protektor ihren regierungstechnokratischen Ausdruck. „Zum Königtum fehlte nur der Name, zur bürgerlichen Militärdespotie das offene Bekenntnis.“ (Otto Rühle, Die Revolutionen Europas. Erster Band, a.a.O., S. 321.)

Während der Herrschaft Oliver Cromwells wurde der Puritanismus zur materiellen Gewalt als Ideologie der ursprünglichen Anhäufung des Kapitals. Er erschöpfte in dieser Zeit allerdings auch seine ideologische Kraft – bei der Erfüllung seiner Aufgabe, durch die ideologische Erhöhung einer gewissen Sparsamkeit auch bei der herrschenden Klasse die psychisch-mentale Voraussetzung für den Aufstieg Englands zur führenden kapitalistischen Nation zu schaffen (siehe dazu ausführlicher weiter unten in diesem Kapitel).

Als Oliver Cromwells Sohn Richard ihn 1658 als Lord-Protektor ablöste, zerfiel der englische Nationalstaat in ein Chaos von Fraktionskämpfen zwischen Lord-Protektor, Parlament, Armee und zwischen den verschiedenen Armeeoffizieren. In diesen Fraktionskämpfen entstand im Jahre 1660 eine parlamentarische Mehrheit für die Presbyterianer, die ihr Heil in der Rückkehr zur Monarchie suchten.

An dieser Etappe der Entwicklung ging die innerbürgerliche Reaktion in die absolutistische Konterrevolution über. Diese Phase der Entwicklung dauerte bis 1688. Denn die Monarchen Karl II. und Jakob II. dachten nicht daran, sich vom bürgerlichen Parlamentarismus kontrollieren zu lassen. Sie gingen daran, die absolute Monarchie und den Katholizismus in England zu restaurieren und die englische Außenpolitik der französischen Monarchie unterzuordnen. Was für ein wahnwitziges Programm, welches der kapitalistischen Wirtschaftsbasis Englands widersprach! Doch die angeblich „revolutionäre“ Bourgeoisie ertrug fast 30 Jahre lang die absolutistische Konterrevolution – aus Angst vor der Revolution! Nein, sie brachte keinen radikalen antimonarchistischen Flügel wie die Independenten mehr hervor – aus Angst vor dem Proletariat. Doch wollte sie ihre ökonomische und politische Stellung bewahren, musste sie Jakob II. loswerden.

So organisierte die englische Bourgeoisie 1688 mit Hilfe des Niederländers Wilhelm von Oranien und den Papst in Rom eine Intrige gegen den katholischen König von England und dessen Verbündeten, das katholische Frankreich, das aber auch für den Vatikan zu mächtig wurde. Wilhelm von Oranien setzte mit einem Heer nach England rüber und setzte Jakob II. ab und wurde neuer König von England. Durch diese Intrige wurde die monarchistische Konterrevolution in England beendet. Wilhelm von Oranien erkannte wie alle KönigInnen nach ihm die bürgerlich-parlamentarische Kontrolle an.

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Wie bereits geschrieben: Während der Herrschaft Oliver Cromwells erlebte der Puritanismus als strenge Religion der Kapitalvermehrung in England seinen Höhepunkt. Der Puritanismus war strenger Calvinismus. Er sah den Menschen als von Natur aus völlig verworfen an und glaubte, dass nur die von Gott Erwählten gerettet werden (Prädestinationslehre). Die biblische Lehre sollte im Gemeinde- und Privatleben kompromisslos angewendet werden. Der Puritanismus lehnte in Anlehnung an die reformierte Tradition von Zwingli und Calvin (siehe Kapitel II.7) alle Formen der Religionsausübung ab, die sich nicht durch das angebliche Wort Gottes in der Bibel begründen ließen. Er stand damit im Gegensatz zur anglikanischen Kirche und auch zum Luthertum. Nach diesen religiösen Ideologien war alles erlaubt, was durch die Bibel nicht ausdrücklich verboten war.

Die puritanische Religiösität legte großen Wert auf persönliche Bekehrung, persönliche religiöse Erfahrung und eine extreme Abkehr von allem, was sie als weltlich ansah. Hinter allem sah der Puritanismus das Wirken des Teufels.

Im Interesse der Kapitalvermehrung verwirklichte der Puritanismus sein Ideal der sparsamen Kirche. Er lehnte christliche Kreuze ebenso ab wie priesterliche Gewänder, Bischöfe und die Bilderverehrung. Er verzichtete auf den üblich steinernen Altar in den Kirchen und ersetzte ihn durch einen einfachen Holztisch. Auch lehnte er das Feiern von Weihnachten ab, wodurch mehr Arbeitstage für die Kapitalvermehrung gegeben waren. Unter Cromwell waren Weihnachtsfeiern sogar verboten. Und zwar nicht nur in England, sondern auch in Massachusetts. In diesem stark puritanisch geprägten US-Bundesstaat wurde Weihnachten erst 1856 ein staatlicher Feiertag.

Der Puritanismus machte ein einfaches, von der Arbeit und von Fleiß des Einzelnen geprägtes und moralisch einwandfreies Leben zur religiös-weltlichen Pflicht. Weltliche Vergnügungen wie Tanz oder Schauspiel am Sonntag oder Wirtshäuser lehnte er strikt ab. Über das tendenziell kulturfeindliche Gebaren des Puritanismus schrieb Max Weber in einer Anmerkung: „Es sei daran erinnert, wie die puritanische Stadtbehörde das Theater in Stratford-on-Avon noch bei Shakespeares Lebzeiten und Aufenthalt dort schloss. (Shakespeares Hass und Verachtung gegen die Puritaner tritt ja bei jeder Gelegenheit hervor.) Noch 1777 lehnte die Stadt Birmingham die Zulassung eines Theaters als die ,Faulheitʻ förderlich und daher dem Handel abträglich ab.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Area Verlag, Erftstadt 2005, S. 261.)

Der Puritanismus war auch eine religiöse Aufladung des bürgerlichen Konkurrenzchauvinismus und Individualismus, der alle Poren der bürgerlichen Gesellschaft durchdringt. Staaten, KapitalistInnen sowie produktionsmittel- und handelsmittelbesitzende KleinbürgerInnen konkurrieren um Rohstoffquellen und Absatzmärkte, Lohnabhängige um Arbeitsplätze und preiswerte Mietwohnungen. Von dieser ökonomischen Basis vergiftet er das gesamte gesellschaftliche Leben – einschließlich der Religion. Und eine besondere Giftpflanze des bürgerlichen Konkurrenzindividualismus stellte der Puritanismus dar. „So z. B. in der auffallend oft wiederkehrenden Warnung namentlich der englischen puritanischen Literatur vor jedem Vertrauen auf Menschenhilfe und Menschenfreundschaft. Tiefes Misstrauen auch gegen den nächsten Freund rät selbst der milde Baxter an, und Bailey empfiehlt direkt, niemandem zu trauen und niemanden etwas Kompromittierendes wissen zu lassen: nur Gott soll der Vertrauensmann sein.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, a.a.O., S. 89.)

Was für ein Elend des bürgerlichen Konkurrenzindividualismus! Gott als eingebildetes Geschöpf des menschlichen Gehirns als einziger Vertrauensmann des Menschen! Im Puritanismus ertränkte der kapitalistische Konkurrenzindividualismus auch jede Spur von Nächstenliebe in der religiösen Ideologie.

Durch den englischen Kolonialismus gelangten auch viele PuritanerInnen nach Nordamerika. Die USA wurden ein stark puritanisch geprägtes Nationalkapital. Konkurrenzindividualismus ist Nationalkultur.

Fazit: In den später führenden kapitalistischen Industrienationen England und USA wurde der Puritanismus als wichtige Ideologie der ursprünglichen Kapitalanhäufung zur materiellen Gewalt. Die relative innerweltliche Askese des Puritanismus formte die menschliche Psyche und Mentalität der KapitalistInnen, KleinbürgerInnen, Staaten und Kirchen nach der Maxime der Kapitalvermehrung. Geld sollte nicht in erster Linie verprasst, sondern vermehrt werden, indem es in die weitere Kapitalvermehrung investiert wurde. Dieser ideologisch-psychologische Moment der Kapitalvermehrung sollte nicht unterschätzt werden. Auch folgender historischer Vergleich macht dies deutlich: Während das katholische Spanien den enormen Reichtum seiner lateinamerikanischen Kolonien vorwiegend konsumtiv verprasste, nutzte der stark protestantisch-puritanisch geprägte britische Imperialismus und später die ähnlich verfassten USA als eigenständige Nation den Reichtum Nordamerikas in erster Linie zur Kapitalvermehrung.

Mit einer gewissen Fettschicht der Kapitalvermehrung – spätestens während der Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde die relative innerweltliche Askese des Protestantismus ökonomisch-ideologisch immer mehr zu einem Anachronismus. Der relativ gehobene Konsum auch des KleinbürgerInnentums und der oberen Schichten des Proletariats wurde zu einer Bedingung der Kapitalvermehrung, der Profitrealisation der Konsumgüterindustrie. Die relative innerweltliche Askese des Protestantismus passte nicht mehr zu dem psychisch-mentalen Klima aus Glitzer, Kram und Reklame als ideologisierte Praxis und praktizierte Ideologie der fett gewordenen Kapitalvermehrung. Diese Entwicklung wurde zwar durch die strukturelle Profitproduktionskrise, in der sich der westeuropäische und nordamerikanische Kapitalismus ab 1974 befinden und in denen die Lohnabhängigen teilweise Reallohnverlusten ausgesetzt wurden, relativiert, aber eben nicht umgekehrt.

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