Neue Broschüre: Schriften zum Klassenkampf V

Unsere neue Broschüre: “ Schriften zum Klassenkampf V“ (ca. 124 Seiten) von Soziale Befreiung (Hg.) ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de bestellen.

Inhalt

Einleitung

Die nichtlohnarbeitenden Schichten des Proletariats
1. Zur Begriffsbildung
2. Erwerbslose Menschen
3. Obdachlose Menschen
4. Ethnisierung, Ghettoisierung und Kriminalisierung des unproduktiven Elends
5. Die nichtlohnarbeitenden Schichten als Teil des Klassenkampfes

Negativ freie ProletarierInnen
1. Zum Begriff
2. Grauzone Praktikum und sozialstaatlich ermöglichte bzw. erzwungene Arbeit
3. Grauzone Arbeitsmigration
4. Flüchtlinge
5. Inhaftierte Menschen

KleinbürgerInnentum und kleinbürgerliche Tendenzen im Proletariat
I. Das KleinbürgerInnentum
1. Das produktionsmittelbesitzende bzw. selbständige KleinbürgerInnentum
2. Das lohnabhängige KleinbürgerInnentum
3. Die Intellektuellen
II. Die kleinbürgerlichen Tendenzen des Proletariats
1. Die Kleinbürgerlichkeit des Proletariats
2. Die institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung
III. Klassenkampf und Kleinbürgerlichkeit
1. Die Widersprüchlichkeit des reproduktiven Klassenkampfes
2. Proletarischer Klassenkampf und kleinbürgerlicher sozialer Protes
3. Prekarisierung, Ruinierung und Proletarisierung des KleinbürgerInnentums
4. Die revolutionäre Selbstaufhebung des Proletariats als die Überwindung
der Kleinbürgerlichkeit

Obdachlose Menschen

Laut dem bundesdeutschen Armutsbericht, den der Paritätische Wohlfahrtsverband am 23. Februar 2016 präsentierte, gibt es in der BRD rund 335.000 obdachlose Menschen. Seit der Annexion der DDR durch die bundesdeutsche Bourgeoisie erfroren in der BRD bis November 2015 300 obdachlose Menschen. So erging es im Dezember 2009 zehn von ihnen, und im Januar 2010 vier… Oberflächlich gesehen war es die klimatische Kälte, an der sie starben, aber im tieferen Sinne starben sie an der asozialen Gnadenlosigkeit und zwischenmenschlichen Eiseskälte im Kapitalismus.
Damit hinter den Zahlen die wirklichen Menschen deutlich werden, wollen wir hier die Schilderung der ehemaligen Obdachlosen Rachel Moran aus Irland widergeben. Rachel Moran wuchs in einer Familie mit psychisch kranken Eltern auf. Als der Vater Selbstmord beging, wurde für sie die Situation mit der Mutter unerträglich. Sie befreite sich 1989/90 mit 14 aus der Familie und geriet in die gefühlskalte Verwaltung des Sozialstaates und schließlich in die Obdachlosigkeit. Sie schrieb später darüber: „Nur wenige Monate nach dem Selbstmord meines Vaters verließ ich mein Elternhaus. Die Paranoia meiner Mutter und ihr Hang, nach Sündenböcken zu suchen, hatten innerhalb weniger Wochen den Siedepunkt erreicht und konzentrierten sich voll auf mich. Sie bombardierte mich jeden einzelnen Tag mit Verbalattacken. Wenn wir uns heftig stritten, was andauernd der Fall war, spuckte sie regelmäßig den Hinweis aus, ich solle zu einem Sozialarbeiter gehen und mir ein Heim suchen. Je mehr ich über ihren Hinweis nachdachte, desto mehr leuchtete er mir ein. Mir graute davor, in die Welt hinauszugehen und mich allein durchzuschlagen, aber mein Leben zuhause war schlichtweg unerträglich, und ich wusste, dass ich nicht bleiben konnte, also tat ich genau das, was sie mir nahelegte. Ich ging zum Gesundheitszentrum unseres Viertels und bat um ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ich kam mir dabei sehr zielstrebig vor, so als würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen, sackte aber zusammen, als ich der Sozialarbeiterin unter Tränen erklärte, weshalb ich da war. Ich sagte immer wieder: ,Ich muss da raus, ich muss da endlich raus.‘ Innerhalb einer Woche hatte sie mich tatsächlich da rausgeholt. Damit begann die schwindelerregende Erfahrung, unter staatlicher Vormundschaft zu leben.
Die erste Unterbringung, an die ich vermittelt wurde, war ein von der Heilsarmee betriebenes Heim im Stadtzentrum, das Lefroy House hieß. Im Laufe der darauffolgenden achtzehn Monate war ich immer wieder obdachlos, im Alter von vierzehn bis fünfzehneinhalb Jahren. Fast jedes Mal, wenn mein Aufenthalt in einem Heim oder in einer Pension endete, war ich wieder obdachlos. Zu Beginn meiner Phasen im äußersten Elend führte ich ein sehr einsames Leben, gab mich mit niemandem ab, ging auf niemanden zu, bat nicht um Hilfe und erhielt folglich auch keine.
Mal riss ich von Heimen aus, mal wurde ich rausgeworfen. Ich war nie gewalttätig, jedoch absolut unnachgiebig, wenn es um Regeln ging, denen ich mich nicht unterwerfen wollte. Ich war sehr willensstark und keineswegs auf den Mund gefallen. Trotz alledem kann ich einige Gründe nicht akzeptieren, die vorgebracht wurden, um mich vor die Tür zu setzen. Zu diesen Gründen gehörte, dass ich einmal mit nur einen Schuh an den Füßen ankam, weil ich kurz zuvor verprügelt worden war, oder dass man mich ein anderes Mal erwischte, in meinem Zimmer Tabletten in einem Glas gehortet zu haben, für den Fall, dass ich eventuell einmal Selbstmord begehen wollte. Ich hatte schon in meiner Kindheit Selbstmordgedanken gehabt. (…)
Der erste Schock, als ich obdachlos wurde, war die kontinuierliche, unablässige Notwendigkeit, ständig unterwegs zu sein. Die Suche nach Orten, an denen man einfach nur sein konnte, stellte ein weitaus größeres Problem dar, als ich es mir zuvor hätte träumen lassen. Nirgendwo, wo man hingeht, wird man in Ruhe gelassen. Diesen Luxus kann man nirgendwo erwarten, schließlich sind einem alle privaten Orte der Welt verschlossen, und alle öffentlichen Orte bieten keinerlei Privatsphäre. Viele der letzteren gewähren einem nicht einmal Zutritt.
Was das Problem betrifft, einen Platz zum Schlafen zu finden, so deckt buchstäblich nichts die Bedürfnisse ab, die selbst die mickrigste und schäbigste Bruchbude erfüllt. Kein einziger Platz bietet Trockenheit, Sicherheit, Sauberkeit, Wärme und einen Minimalkomfort. Eine Parkbank mag trocken sein, wenn es nicht regnet, sie mag sogar sauber sein, wenn man Glück hat, aber sie ist weder sicher noch warm, noch bequem. Eine Stelle unter einem Busch ist vielleicht trocken, falls man das Wetter auf seiner Seite hat, aber sie ist weder sicher noch sauber, noch warm, noch bequem.
Ich habe an vielen Plätzen dieser Art geschlafen und einer war so erbärmlich wie der andere. Einmal schlief ich in einem Bus, der in einem Depot mit offenen Türen abgestellt worden war. Als ich aufwachte, fuhr ich in den frühen Morgenstunden über die damals noch grünen Felder von Westdublin. Ich hatte keinen Schimmer, wo ich war, und es war ein unsanftes Erwachen, aber ich fand, dass es sich gelohnt hatte. Es war die bequemste Nacht seit Langem.
Einmal fiel ich für etwa eine halbe Stunde auf dem kalten Fliesenboden einer Toilette bei McDonald‘s auf der O‘Connell Street in einen unruhigen Schlaf. Die Nacht zuvor hatte ich keinen Schlafplatz finden können und war zutiefst erschöpft, also ging ich zu McDonald‘s, kaum, dass sie geöffnet hatten, um Egg McMuffins zum Frühstück zu verkaufen. Ich dachte, wenigstens auf der Toilette hätte ich einen sicheren Raum für mich. Ich wurde von einer Mitarbeiterin, die hereingekommen war, um die Toiletten zu reinigen, aus dem Schlaf gerissen und rausgeworfen. Das führt mich zur wahren und schlimmsten Verheerung, die die Obdachlosigkeit mit sich bringt: die Einsamkeit. Es ist die Erfahrung, dass man absolut unerwünscht ist, dass die eigene, bloße Anwesenheit an allen Orten und in allen Situationen ein unerquicklicher Umstand ist. Egal, wo man sich als obdachlose Person befindet, man ist immer unwillkommen. Wenn ein Mensch obdachlos ist, so sinkt sein gefühlter Wert für die Gesellschaft auf null. Er existiert nicht. Ihrem Selbstgefühl nach sind solche Menschen wertlos und missliebig, soziale Parias, Verstoßene, Außenseiter, deren bloßer Körper ein unerwünschter Störfaktor ist, den sie mit sich herumtragen müssen, wohin sie auch gehen. Sie sind im wortwörtlichsten Sinne unerwünscht. Sie sind die verkörperte Überflüssigkeit. Ich habe all diese Gefühle zu spüren bekommen, als ich obdachlos war. Das tun alle obdachlosen Menschen. Es ist unumgänglich.“ (Rachel Moran, Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution, Tectum Verlag, Marburg 2015, S. 63-68.)
Rachel Moran entkam der Obdachlosigkeit, indem sie mit 15 Jahren in die Prostitution geriet, aus der sie sich dann nach sieben Jahren ebenfalls befreite…
Aber Obdachlose sind nicht nur leidende Menschen, sie sind auch Teil des globalen proletarischen Klassenkampfes. Johannes Schulten schrieb über den Wohnungsnotstand, staatliche Repression und den sozialen Widerstand in Sao Paulo/Brasilien: „In der brasilianischen 20-Millionen-Metropole Sao Paulo herrscht akuter Wohnraumnotstand. Allein in Stadtkern mangelt es nach offiziellen Angaben an 600 000 Wohnungen. Städtische ,Aufwertungsprogramme‘ trieben die Mieten in den letzten Jahren in die Höhe. Die Immobilienspekulation boomt. Während inzwischen sogar Mittelstandsfamilien ihre Stadtwohnungen nicht mehr bezahlen können und an die Peripherie übersiedeln, bleibt für die stetig wachsende Zahl der Menschen, die ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft verdienen, häufig nur die Favela. Aber auch in den brasilianischen Slums wird der Platz knapp. Innerhalb der letzten 20 Jahre sind die städtischen Elendsviertel fünfmal schneller gewachsen als die gesamte Metropolenregion. In den etwa 1600 Favelas im Großraum Sao Paulo leben bis zu 1,2 Millionen Menschen.
Wo staatlicherseits wenig Abhilfe zu erwarten ist, gehen Obdachlosenorganisationen seit einigen Jahren dazu über, sich den benötigten Wohnraum einfach anzueignen. Gruppen wie die 1997 gegründete Bewegung obdachloser Arbeiter (MSTS), ein Ableger der Landlosenorganisation MST, verlassen die Favelas und besetzen nicht genutztes Land in den Vorstädten.
Eine dieser Siedlungen befindet sich im Viertel Capao Redondo im Süden von Sao Paulo. Vor zwei Jahren besetzten etwa 600 Familien hier nicht genutztes Privatgelände, das sich im Besitz eines nationalen Busunternehmens befindet. Inzwischen ist die Zahl der Familien, die dort leben, auf über 800 angewachsen. Für die Stadtverwaltung gilt die Siedlung jedoch immer noch als illegal. Am vergangenen Montag (24. August 2009) war es dann soweit. Unter dem Einsatz von Tränengas und Blendgranaten stürmten etwa 250 Polizisten der brasilianischen Militärpolizei das Gelände. Die Bewohner verteidigten sich mit dem, was sie hatten: Es flogen Steine und Molotow-Cocktails; Autos, Reifen und Schrott dienten als Barrikaden. Nach sechs Stunden war das Spektakel vorbei, der Widerstand der rund 500 Verteidiger gebrochen. Die Bulldozer rollten ein. Einen Tag später, am Dienstag (25. August 2009) stand kein Haus mehr.
Wie sehr solche Aktionen zum Alltag in Brasilien gehören, zeigt die Reaktion eines Polizeikommandeurs. Auf die Journalistenfrage, ob die Räumung angesichts der Ausschreitungen nicht abgebrochen werden müsse, antwortete er lapidar: ,Ein wenig Widerstand ist für uns normal‘. Einen Grund, die Aktion abzubrechen, sehe er nicht. Was bleibt, waren Dutzende verhaftete Favela-Bewohner, einige Verletzte. Am Mittwoch (26. August 2009) befanden sich nach Aussagen verschiedener Obdachlosenorganisationen immer noch 500 Familien auf dem Gelände. Einen Ort, wohin sie gehen könnten, haben sie nicht.“ (Johannes Schulten, Bulldozer statt Recht auf Wohnen, in der junge-Welt-Beilage faulheit & arbeit vom 29./30. August 2009, S. 5.)

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