Neue Broschüre: Globale Klassenkämpfe (2019/2020)

Unsere neue Broschüre „Globale Klassenkämpfe (2019/2020)“ (ca. 129 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

1. Das globale Dreiecksverhältnis Warenproduktion – Lohnarbeit – Politik
2. Die Weltwirtschaftskrise
3. Klassenauseinandersetzungen in der Metallindustrie
4. Konflikte im Personen- und Güterverkehr (Logistik)
5. Kämpfe im Gesundheitswesen und in der Pflege
6. Klassenkonflikte in der Agrarproduktion und Lebensmittelbranche
7. Auseinandersetzungen in der Textilproduktion
8. Zusammenstöße in der Bildungs-, Kultur- und Ideologieproduktion
9. Klassenkämpfe der persönlich Dienenden
10. Auseinandersetzungen im Reinigungsgewerbe
11. Konflikte im Finanzsektor
12. Klassenzusammenstöße in Hotels, Cafés und Gaststädten
13. Auseinandersetzungen im Baugewerbe
14. Klassenkonflikte im Groß-, Einzel- und Onlinehandel
15. Zusammenstöße im Rohstoff- und Energiesektor
16. Kämpfe im öffentlichen Dienst
17. Konflikte in „Behindertenwerkstätten“
18. Branchenübergreifende Klassenkämpfe
19. Soziale Protestbewegungen

Konflikte in „Behindertenwerkstätten“

Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen stellen in der BRD einen Bevölkerungsanteil von 10 Prozent dar. Sie werden auch auf dem Arbeitsmarkt ghettoisiert. Auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt werden durch eine immer stärkere Intensivierung körperliche Behinderungen und psychische Erkrankungen produziert. Aber Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen werden durch ihn kaum integriert. Also werden viele von ihnen in „Werkstätten für behinderte Menschen“ (WfbM) beschäftigt. Der Fachausschuss der UNO, der über die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen „wacht“, kritisierte das Werkstattsystem in Deutschland 2015 dafür, dass es weder einen Beitrag zur Qualifizierung der dort Arbeitenden leistet noch deren Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt fördert. Kapitalistische Unternehmen können sich durch die Auftragsvergabe an die WfbM von ihrer gesetzlichen Verpflichtung entziehen, Menschen mit Behinderungen zu „normalen“ Konditionen einzustellen und auszubeuten. Die WfbM schaffen legale Möglichkeiten für private Einzelkapitale, Produktionsschritte konkurrenzlos billig einzukaufen. Profiteure sind Autozulieferer, Möbelhäuser und Unternehmen, die Haushaltswaren herstellen. Der Staat pumpt in diese für das Privatkapital profitable Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen in den WfbM jährlich rund sechs Milliarden Euro.
Dieses Werkstattsystem wird durch staatliche Subventionen betrieben. Es funktioniert nur, weil die dort Arbeitenden „nebenbei“ durch staatliche Transferleistungen am Leben gehalten werden. Die meisten bekommen die Grundsicherung. In den Werkstätten selbst konnten sie im Jahre 2017 bundesweit durchschnittlich 213 Euro im Monat verdienen, in Sachsen nur 106 Euro. Der größte Teil dieses Geldes kommt direkt vom Staat. Das System der „Behindertenwerkstätten“ ist ein Beispiel dafür, dass der deutsche Staat wie jeder andere auch im Industriezeitalter ein Gewaltapparat der Kapitalvermehrung ist und auch nichts anderes sein kann. Der deutsche Staat vermeidet jede wirkliche Veränderung des ersten Arbeitsmarktes, damit dieser auch stärker Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in „normale“ Lohnarbeit bringt. Dies würde ihn in Konflikte mit privaten Kapitalinteressen bringen. SozialrevolutionärInnen treten selbstverständlich nicht für eine Integration von Menschen mit Behinderungen in die „normale“ kapitalistische Ausbeutung ein, sondern für den selbstorganisiertem Klassenkampf der von Staat und Kapital behinderten Menschen – mit dem langfristigen Ziel der Schaffung einer klassen- und staatenlosen Solidargemeinschaft.
Da die Arbeit in den WfbM nicht als normale Lohnarbeit gilt, gilt in ihnen weder das Arbeitsrecht noch ist sie durch Tarifverträge geregelt. Gewerkschaften können also nicht zu Co-Managerinnen der Ausbeutung der Menschen mit Behinderungen innerhalb des Werkstattsystems werden. Aber Streiks sind in der BRD nur im Rahmen des Tarifvertragssystems und unter Führung von Gewerkschaftsapparaten legal. Dies illegalisiert selbst den reproduktiven Klassenkampf der Menschen mit Behinderungen innerhalb der WfbM. Sie gelten nicht als „Arbeitnehmer“ im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes und haben offiziell auch kein Streikrecht. Deshalb kann jeder Streik in diesen Werkstätten nur „wild“, das heißt illegal und außerhalb der Kontrolle der etablierten bürgerlichen Gewerkschaftsapparate sein. In den Arbeitsniederlegungen in den WfbM muss und kann sich also die ganze klassenkämpferische Selbstorganisation des behinderten Proletariats entfalten. Während die „normalen“ Lohnabhängigen auch von den Gewerkschaftsbonzen behindert werden, die ihren Klassenkampf kontrollieren.
Ein solcher wilder Streik entwickelte sich im Mai 2020 in der WfbM im rheinland-pfälzischen Bernkastel-Wittlich. Anfang des Monats teilte die Werkstatt-Leitung ihren behinderten Beschäftigten mit, dass sie wegen der schwierigen Auftragslage gezwungen sei, ihren Monatslohn um rund 30 Prozent auf 141 Euro zu reduzieren. Doch die von Kapital und Staat behinderten ProletarierInnen der vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) betriebenen Einrichtung traten aus ihrer Opferrolle heraus und in den wilden Streik. Sie wurden dadurch zu Subjekten des selbstorganisierten Klassenkampfes. Sie erschienen zwar weiterhin am Ausbeutungsplatz, aber arbeiteten dort nicht mehr. Die behinderten ProletarierInnen verteilten Plakate auf dem Betriebsgelände, durch die sie ihre KollegInnen aufforderten, ebenfalls die Arbeit niederzulegen.
Ein vorwärtstreibender Aktivist dieses Kampfes war Lukas Krämer, der zum Zeitpunkt des Ausstandes selbst dort nicht mehr beschäftigt war. Er begründete seine Kündigung, nachdem er fünf Jahre dort ausgebeutet wurde: „Bei den rund 200 Euro monatlich für eine 35-Stunden-Woche hatte ich nie Geld für größere Sprünge oder mal Urlaub. Darauf hatte ich keine Lust mehr.“ (Zitiert nach: Frieder Kurbjeweit, Wilder Streik gegen Entgeltkürzungen, im Special Behindertenpolitik der jungen Welt vom 7. September 2020, S. 4.) Nach seiner Kündigung begleitete er kritisch die Entwicklungen in den WfbM auf seinem Youtube-Kanal „Skultalks“. Im Mai 2020 bekam der Aktivist Briefe von Beschäftigten aus verschiedenen „Behindertenwerkstätten“, in denen ähnliche Lohnkürzungen beschrieben wurden.
Frieder Kurbjeweit schrieb über die Tätigkeit des Aktivisten Lukas Kramer und das Ende des wilden Streiks: „Kramer veröffentlichte und skandalisierte die Schreiben auf seinem Kanal und nahm Kontakt mit Beschäftigten seiner ehemaligen Arbeitsstelle auf. Er koordinierte die Streikenden, ermutigte sie dabeizubleiben und machte die Vorgänge online öffentlich. In den Kommentaren zu Krämers Beiträgen melden sich Beschäftigte aus ganz Deutschland zu Wort. Gemeinsam ist ihnen der Ärger darüber, dass finanzielle Schieflagen immer von den behinderten Beschäftigten ausgebadet werden müssen, die ohnehin fast nichts verdienen. (…)
Werkstätten sind gesetzlich dazu verpflichtet, Rücklagen für mindestens sechs Monate zu bilden, um Schwankungen in der Auftragslage ausgleichen zu können. Nachvollziehbare Antworten auf die Frage danach, wo dieses von den Beschäftigten bereits erwirtschaftete Geld denn sei, gab es von der WfbM-Leitung in Wittlich bisher nicht. Die Geschäftsführung wies die Streikenden darauf hin, dass es angesichts sinkender Einnahmen aufgrund der Coronapandemie geboten sei, noch engagierter zu arbeiten, um das Wasser aus dem Boot zu schöpfen, in dem alle gemeinsam säßen. Doch das Bild stimmt nicht. Betroffen von den Kürzungen sind nur die behinderten Beschäftigten, die weder durch das Arbeitsrecht noch durch Tarifverträge geschützt sind. (…)
In der Arbeit der Gewerkschaften kommen die behinderten Werkstattbeschäftigten bisher kaum vor. Der Streik in Wittlich brach nach einigen Tagen zusammen. Nachdem der Geschäftsführung bekannt wurde, dass einer der Streikenden ein Verhandlungsgespräch heimlich aufgezeichnet hatte, wurde ihm mit rechtlichen Schritten gedroht und so der weitere Arbeitskampf erstickt. Im Juni (2020) sprang dann wieder der Bund mit 70 Millionen Euro ein, um das weitere Funktionieren des Systems sicherzustellen. Aber der Streik hat gezeigt, dass die WfbM nicht immun sind gegen Widerstand von Beschäftigten. Gleichzeitig entwickeln behinderte Menschen überregionale Plattformen, um auch von außen Druck zu erzeugen. Bisher fehlen politische Allianzen, die auch das Know-how zusammenbringen, um diese Kämpfe erfolgreich zu Ende zu führen. Wenn Beschäftigte sich vermehrt weigern, weiterhin zu den in den WfbM üblichen Konditionen zu arbeiten oder Verschlechterungen mitzutragen, dann wird die Bundesregierung nicht umhinkönnen, das System grundlegend zu reformieren. Der Streik in Wittlich könnte ein Anfang sein.“ (Frieder Kurbjeweit, Wilder Streik gegen Entgeltkürzungen, a.a.O.)
Der perspektivische Ausblick von Frieder Kurbjeweit bleibt völlig im Rahmen des linkspolitischen Sozialreformismus. Doch die Entfaltung des selbstorganisierten Klassenkampfes des von Kapital und Staat behinderten Proletariats hat möglicherweise langfristig das Potenzial im Zusammenspiel mit dem Wirken ihrer „normalen“ Klassengeschwister sich zur sozialen Revolution zu radikalisieren. Dabei ist es ein Segen, dass die behinderten Beschäftigten der WfbM bisher noch nicht von den bürgerlichen Gewerkschaftsapparaten desorganisiert werden. Dies macht die klassenkämpferische Selbstorganisation nur noch notwendiger. Sowohl in Form einer informellen Selbstorganisation, aber perspektivisch auch innerhalb von unabhängigen Streikkomitees. Es fehlen auch keine „politischen Allianzen“ im selbstorganisierten Klassenkampf des behinderten Proletariats, wie Kurbjeweit behauptet, sondern es besteht die Chance, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten im verschärften Konflikt mit Kapital und Staat ein sozialrevolutionär-antipolitisches Sein und Bewusstsein entwickeln. Dessen Ausdruck ist dann notwendigerweise die revolutionäre Klassenkampforganisation des Proletariats, die möglicherweise alle Hindernisse sprengt.

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