Neue Broschüre: Zionismus und arabischer Nationalismus

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Inhalt

Einleitung

I. Europäischer Antijudaismus, Zionismus und palästinensischer Nationalismus vor 1948
1. Von der relativen Assimilation der Juden in Westeuropa zum massenmörderischen Antijudaismus
2. Die Symbiose aus Antijudaismus und Zionismus
3. Osmanisches Reich, britischer Imperialismus, Zionismus, palästinensischer Nationalismus und Faschismus
4. Palästina nach dem Zweiten Weltkrieg

II Israel, der palästinensische Nationalismus und arabische Staaten
1. Der Krieg von 1948/49
2. Der Sechstage-Krieg von 1967
3. Der Krieg von 1973
4. Die Formierung des modernen palästinensischen Nationalismus
5. Der globale Krieg zwischen Israel und dem palästinensischen Exil-Nationalismus
6. Israel und die Besetzten Palästinensischen Gebiete (BPG)
7. Israel, die PLO und Jordanien
8. Israel, der palästinensische Nationalismus und Ägypten
9. Israel, die PLO und der Libanon
10. Israel, der palästinensische Nationalismus und Syrien

III Der sozialreaktionäre Charakter Israels
1. Auschwitz und Israel
2. Israel, das Judentum, der nichtjüdische Prozionismus und der Antijudaismus
3. Israel als eigenwilliger Wachhund des US-Imperialismus
4. Die Vermehrung des israelischen Nationalkapitals
5. Die israelische Apartheid-Demokratie

IV Die sozialrevolutionäre Nullstaatenlösung
1. Die mögliche Formierung des Weltproletariats zum revolutionären Subjekt
2. Die revolutionäre Zerschlagung aller Nationalismen

Von der relativen Assimilation der Juden in Westeuropa zum massenmörderischen Antijudaismus

Das alte Judentum war ein vorindustriekapitalistisches Handelsvolk, deren sozialökonomische Basis sich in der jüdischen Religion ideologisch spiegelte. So wie auch der evangelische Protestantismus – besonders der Calvinismus – die sozialpsychologischen Bedürfnisse der christlichen Bourgeoisie befriedigte. Was war die Funktion von vorindustriekapitalistischen Handelsvölkern wie den Juden? Sie verkörperten bis zum 11. Jahrhundert den verselbständigten Tauschwert, das Geld, in einer Agrargesellschaft, die noch weitgehend von der Naturalproduktion beherrscht war. Im europäischen Feudalismus spielte in der Landwirtschaft das Geld keine Rolle. Die BäuerInnen produzierten fast alles selbst was sie brauchten und die Abgaben an die Feudalherren wurden auch in Form von Naturalabgaben geleistet. Die Feudalherren brauchten allerdings Geld zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach orientalischen Luxusgütern. Hier kam das Judentum als vorindustriekapitalistisches Handelsvolk ins Spiel. Es handelte mit Luxusgütern und stellte den Feudalherren durch Wucher Geld zur Verfügung.
Den Christen war es von der Kirche verboten Zins zu nehmen. So betrieben oft Juden im Auftrag und im Interesse der Feudalherren Finanzgeschäfte. Dafür wurden die Juden oft zum Sündenbock für die Misswirtschaft. Das feudale System wusch sich rein, indem es auf den schmutzigen Juden verwies. Die Judenverfolgung hatte auch damals schon – trotz der irrationalen Ideologie, die sie produzierte – einen rationalen, die Herrschaft sichernden Kern. In der ständischen Gesellschaft des Feudalismus wurde der Charakter des Judentums als vorindustriekapitalistisches Handelsvolk verrechtlicht und zementiert.
Im Gegensatz zu einer Verschwörungslegende des Antijudaismus waren die Juden eben nicht die „ErfinderInnen“ des modernen europäischen Kapitalismus, sondern sie wurden im Gegenteil mit der Herausbildung einer christlichen Handels- , Finanz- und schließlich Industriebourgeoisie ziemlich an den Rand gedrängt und Verfolgungen sowie Vertreibungen ausgesetzt. Zuerst wurden die Juden von einer ab dem 11. Jahrhundert entstehenden christlichen Handelsbourgeoisie aus dem Handel verdrängt. Es blieb ihnen oft nur noch das Wuchergeschäft. Der Antijudaismus ist eine extrem ideologisch verzerrte Widerspiegelung der Tatsachen, dass die Juden durch ihr Handelsmonopol bis zum 11. Jahrhundert den Tauschwert in einer noch vorwiegend von der Naturalwirtschaft geprägten Gesellschaft verkörperten und dann, als das Geld immer stärker den Feudalismus aushöhlte und zerstörte, von einer christlichen Handelsbourgeoisie immer mehr in den Wucher verdrängt wurden. Aber im modernen Kapitalismus verkörpern die Juden nicht mehr und nicht weniger das Geld als alle anderen Sprach-, Religions- und Kulturgemeinschaften auch.
In dem Maße, wie sich in den feudal-bürgerlichen Gesellschaften eine christliche Handelsbourgeoisie, welche auch den Geldhandel betrieb, entwickelte, konnten die Juden ab dem 12. Jahrhundert aus dem Handel verdrängt und vorübergehend vertrieben werden. Vorher nicht, weil das schwerwiegende sozialökonomische Folgen gehabt hätte. Die jüdische Religionsgemeinschaft wurde immer stärker von der anderen Bevölkerung isoliert. Zwischen 1099 und 1291 wurde die jüdische Bevölkerung in Palästina durch Kreuzfahrer und Seldschuken dezimiert. Seit dem 13. Jahrhundert erfolgte die zwangsweise Ansiedlung in geschlossene Stadtviertel (Judengasse, Judenviertel, Judenquartier, Ghetto). So wurden die Juden in den Jahren 1182, 1268 und 1306 aus Frankreich vertrieben. Die Juden wurden also als vorindustriekapitalistisches Handelsvolk mit der Entwicklung einer christlichen Handelsbourgeoisie zunehmend verdrängt und nach Osteuropa vertrieben. Die Pest von 1348-51 wurde in ganz Europa zu einer barbarischen Judenverfolgung zum Anlass genommen. Sie forderte Zehntausende von Opfern und führte zu einer starken jüdischen Auswanderung, besonders von Deutschland nach Polen. Joachim Kahl bemerkt zu Recht: „So umfassend wurden die Juden ausgerottet, dass die Katastrophe dieser Jahre auf faschistische Pogrome unter Hitler vorausweist.“ (Joachim Kahl, Das Elend des Christentums, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg, 1968/1993 S. 48.)
Mit der Entwicklung des Industriekapitalismus und der Entstehung moderner demokratischer Rechtsstaaten als den effektivsten politischen Formen der sozialen Diktatur des Kapitals in Westeuropa, bestand für die Juden Westeuropas immer stärker sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit sich als vorindustriekapitalistisches Handelsvolk aufzuheben und sich in die entstehenden Nationalstaaten zu assimilieren. Bei einer geglückten Assimilation würden die Juden sich sozial in die drei Hauptklassen Bourgeoisie, KleinbürgerInnentum und Proletariat spalten und als Religions- und Kulturgemeinschaft die Religionsfreiheit genießen. Die Juden würden sich durch den Nationalismus in erster Linie als FranzösInnen, EngländerInnen, Deutsche usw. fühlen, und ihr Judentum wäre wie jede Religion Privatsache. Diese Assimilation war auch im 19. Jahrhundert in Westeuropa relativ erfolgreich. Doch diese relative Assimilation war auch in Westeuropa immer wieder durch mal stärkere und mal schwächere Schübe des Antijudaismus geprägt. Besonders das KleinbürgerInnentum – aber auch Teile des Proletariats und der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung – waren durchaus anfällig gegenüber dieser chauvinistischen Ideologie.
In Osteuropa –besonders im zaristischen Russland – war der Kapitalismus zu schwach entwickelt, um das Judentum zu assimilieren. Der Kapitalismus war zwar auch dort Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts schon so stark, dass es massenhaft das jüdische Kleinhandwerk ruinierte, aber eben zu schwach, um das ruinierte jüdische KleinbürgerInnentum vollständig in ein Proletariat transformieren zu können. Das erzeugte in der jüdischen Bevölkerung –besonders im russisch annektierten Teil Polens – eine große Arbeitslosigkeit und ein für das Kapital unproduktives Elend. Zwar entwickelte sich auch ein jüdisches Proletariat, doch das wurde vorwiegend im zugrunde gehenden jüdischen Kleinhandwerk ausgebeutet. Im russisch annektierten Teil Polens verboten die polnischen Berufsgewerkschaften bis zum Sturz des Zarismus den jüdischen ProletarierInnen die Arbeit in der Industrie. Der überlebte Zarismus versuchte sich zu erhalten, indem er die soziale Wut – besonders der BäuerInnen –auf die Juden lenkte. Die Organisation bzw. Duldung antijüdischer Pogrome hatte für den russischen Zarismus eine herrschaftsstabilisierende Funktion. Er schürte auch die antijüdische Verschwörungsideologie nach Leibeskräften und produzierte das antijüdische Machwerk Protokolle der Weisen von Zion. Diese Hetzschrift gehörte international zur Lieblingslektüre aller Judenhasser, unter ihnen auch Adolf Hitler.
Die Nichtintegration der Juden im ökonomisch unterentwickelten Osteuropa hatte drei Folgen: Die Emigration nach Westeuropa, in die USA und nach Palästina, die Entstehung einer besonderen jüdischen institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung und die Entwicklung des jüdischen Nationalismus, des Zionismus. Mit den beiden letztgenannten Folgen werden wir uns in den folgenden Kapiteln dieses Teiles auseinandersetzen. Hier wollen wir uns mit der Emigration osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Westeuropa und dem Anwachsen des Antijudaismus als chauvinistischer Reaktion auf die osteuropäisch-jüdische Migration beschäftigen. Die Ankunft jüdischer MigrantInnen aus Osteuropa stärkte auch in Westeuropa den Antijudaismus als reaktionäre chauvinistische Konkurrenzideologie. Mehrere europäische Nationalstaaten versuchten die jüdische Emigration gesetzlich einzuschränken. So erließ Großbritannien 1905 das berüchtigte Fremdengesetz, mit dem den osteuropäischen Juden und Jüdinnen die Migration auf die Insel verunmöglicht wurde.
Die so genannte „jüdische Frage“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand aus der Nichtassimilation der Juden und Jüdinnen durch den noch schwachen osteuropäischen Kapitalismus und die Rückgängigmachung der relativen Assimilation durch den deutschen Krisenkapitalismus in seiner NS-faschistischen Form und schließlich im antijüdischen Massenmord. Die relative Assimilation der Juden in Westeuropa im 19. Jahrhundert beruhte auf der beschleunigten Kapitalvermehrung. Doch diese beschleunigte Kapitalvermehrung geriet ab 1914 in die strukturelle Profitproduktionskrise. Diese war in erster Linie ein Ausdruck des tendenziellen Falles der Profitrate, dem Verhältnis zwischen den Kosten der kapitalistischen Produktion (Produktionsmittel- und Lohnkosten) und ihren Gewinnen. Diese Profitrate fällt tendenziell durch zwei gesellschaftliche Prozesse. Der eine Prozess ist die zunehmende Mechanisierung und Automatisierung der kapitalistischen Produktionsweise, bei der immer mehr Funktionen der menschlichen Arbeitskräfte (ProletarierInnen, menschliches produktives Kapital) zur Funktion der Maschinerie (sachliches produktives Kapital) werden. Dadurch steigen tendenziell die Produktionsmittelkosten schneller und stärker an als die Gewinne. Die Folge ist ein tendenzieller Fall des Verhältnisses zwischen den Kosten der kapitalistischen Produktion und ihren Gewinnen (Profitrate). Diesem Fall der Profitrate können die KapitalistInnen entgegenwirken, indem sie die Ausbeutungsrate (Mehrwertrate) als Verhältnis zwischen den Lohnkosten und dem vom Proletariat erzeugten Mehrwert, den sich die Bourgeoisie aneignet, erhöhen. In der selbstreproduktiven Arbeitszeit erzeugt das Proletariat einen Wert, der den Lohnkosten entspricht, während es in der Mehrarbeitszeit den Gewinn für das Kapital produziert. Der Kampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, also der reproduktive Klassenkampf des Proletariats im Rahmen des Kapitalismus, lässt die Mehrwertrate und damit auch die Profitrate sinken. Die KapitalistInnen müssen durch das Senken des Reallohnes sowie durch Arbeitsverdichtung oder unbezahlte Arbeitsverlängerung danach streben, die Mehrwertrate zu erhöhen, die wichtigste Gegentendenz zum Fall der Profitrate. Die strukturelle Profitproduktionskrise führt also zur Verschärfung des Klassenkampfes.
Während die Erhöhung der Ausbeutung des Proletariats die wichtigste Gegentendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate darstellt, ist die Erhöhung der Profitmasse bei einer fallenden Profitrate eine wichtige Kompensation. Größere Kapitale erzielen eine größere Profitmasse. Neben dem einfachen Wachstum der Kapitale, führt das Schlucken von kleinerem und kriselndem Kapital durch größeres und ökonomisch potenteres Kapital zur weiteren Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Gerät der Kapitalismus in eine strukturelle Profitproduktionskrise, verschärft sich also der Konkurrenzkampf enorm. Sowohl zwischen KapitalistInnen und KleinbürgerInnen innerhalb der einzelnen Nationalkapitale/Nationalstaaten als auch die imperialistische Konkurrenz zwischen den letztgenannten. Und damit laden sich auch alle chauvinistischen Konkurrenzideologien wie Nationalismus, Rassismus und Antijudaismus auf. Konkurrenz gibt es nicht nur zwischen KapitalistInnen und KleinbürgerInnen, sondern auch zwischen ProletarierInnen auf dem Arbeitsmarkt. Der permanente Konkurrenzkampf innerhalb des Kapitalismus, wozu auch der imperialistische Krieg zwischen Staaten gehört, ist potenziell und tendenziell massenmörderisch und entfesselte während der strukturellen Profitproduktionskrise zwischen 1914 und 1945 seine bisher gewaltigste zivilisationsbarbarische Zerstörungskraft. Dazu gehören die beiden von Deutschland begonnenen Weltkriege, die aber auch von Seiten aller seiner Feinde – einschließlich der staatskapitalistischen Sowjetunion – imperialistisch-reaktionäre Kriege waren, der kapitalistisch-industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden durch den deutschen NS-Faschismus und das atomare Massaker des US-Imperialismus in Japan. Beide Weltkriege waren vor allem ein ultrabrutaler Klassenkampf von oben, bei denen sich die ProletarierInnen zum Wohle des Weltkapitalismus gegeneinander massakrierten. Diese Tatsache zu verschleiern, ist bis auf den heutigen Tag das dreckige Geschäft von Neofaschismus und einem großen Teil des Antifaschismus, der sich auf die Seite der imperialistischen Kriegsgegner des NS-Faschismus stellt. Wer Hiroshima und Auschwitz gegeneinander in Stellung bringt und so relativiert, dem gehört das Maul gestopft!
Sowohl die beschleunigte Kapitalvermehrung als auch die strukturelle Profitproduktionskrise sind durch die Konjunkturzyklen geprägt (Aufschwung und Krise). Allerdings sind in der strukturellen Profitproduktionskrise die Aufschwünge weniger expansiv, dafür aber die Krisen häufiger und tiefer. Der westeuropäische und der nordamerikanische Kapitalismus gerieten ab 1914 in die strukturelle Profitproduktionskrise, die in einer Konjunkturkrise zum Ausdruck kam. Der Erste Weltkrieg war für das globale Rüstungskapital ein gefundenes Fressen und bescherte dem US-Nationalkapital ein Extraaufschwung, während Europa in Blut und organisiertem Chaos versank. Der Krieg führte zur Verschärfung des Klassenkampfes, der in der europäischen revolutionären Nachkriegskrise (1917-1923) mündete, die jedoch der globale Kapitalismus konterrevolutionär löste – dazu gehörte auch der bolschewistische Staatskapitalismus in „Sowjet“-Russland, welcher 1921 die Kronstädter Matrosen als Avantgarde der Revolution massakrierte. Zwischen 1923 und 1929 stabilisierten sich der westeuropäische und der nordamerikanische Kapitalismus etwas – um dann 1929 in der Weltwirtschaftskrise zu landen.
Diese Krise machte in Deutschland den NS-Faschismus als kleinbürgerlich-reaktionäre Massenbewegung im Interesse der Bourgeoisie groß. Der NS-Faschismus war Fleisch vom Fleische des deutschen KleinbürgerInnentums, das durch die Weltwirtschaftskrise massenhaft ruiniert wurde. Die ruinierten KleinbürgerInnen konnten nicht in der ArbeiterInnenklasse aufgehen, da diese selbst unter der Massenarbeitslosigkeit litt. Der Antijudaismus der Nazis entsprach den sozialökonomischen und sozialpsychologischen Bedürfnissen der von der Krise bedrohten KleinbürgerInnen. Wenn jemand vernichtet werden sollte, dann nicht sie, sondern die jüdische Konkurrenz! Kauft nicht bei Juden, sondern bei braven „arischen“ Deutschen! Die KleinbürgerInnen projizierten massenhaft ihren ganzen Hass auf die Juden, ihre eigene Geldgier auf die „Geldjuden“, ihre Angst und Abscheu vor dem klassenkämpferischen Proletariat in den „jüdischen Bolschewismus“, ihre Enttäuschung in die Weimarer „Judenrepublik“ – die sie nicht retten wollte oder konnte – und das angeblich „jüdische“ Bankkapital, bei dem sie massenhaft verschuldet waren.
Keine Klasse beherrscht die Kapitalvermehrung, auch die KapitalistInnen werden von ihr beherrscht. Sie werden vom Aufschwung emporgehoben – und dann in die Krise geschleudert. Für die KleinbürgerInnen fällt die Höhe des Aufschwunges wesentlich niedriger, dafür aber der Fall umso tiefer aus. Von der sozialökonomischen und psychologischen Vernichtung bedroht, wollen sie überleben, indem sie andere vernichten. Eine Zwischenstellung zwischen dem Großkapital, dass es besonders in der Krise massenhaft ruiniert, und dem Proletariat, das es embryonal ausbeutet, einnehmend, lief das KleinbürgerInnentum während der Weltwirtschaftskrise in Deutschland im Interesse der Bourgeoisie antijüdisch und antikommunistisch Amok und machte den NS-Faschismus zu einer Massenbewegung. Als die deutsche Bourgeoisie 1933 den Nazis die politische Macht übergab wurde ihr Antijudaismus zur massenmörderischen Gewalt. Der Antijudaismus wurde wie die Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg und die Zerschlagung der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung (Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Partei-„Kommunismus“) zur völkischen Krisenlösungsstrategie der Nazis. Indem die Bourgeoisie ihre Herrschaftsform von der Demokratie zum NS-Faschismus transformierte, entwickelte sich der NS-Faschismus aus einer kleinbürgerlichen Massenbewegung in eine großbürgerliche politische Strömung.
Beim staatlichen Antijudaismus der Nazis verschmolz die kalte technokratische Rationalität der Kapitalvermehrung mit einer überfanatischen irrationalen Vernichtungsideologie und gipfelte schließlich im kapitalistisch-industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Die Verdrängung der Juden und Jüdinnen durch den NS-Staat aus Wirtschaft, Politik und Kultur, eröffnete neue Karrieren für „arische“ Deutsche, besonders für überzeugte Nazis. Die jüdische Bourgeoisie wurde im Interesse ihrer „arischen“ Konkurrenz enteignet, wodurch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals zunahm. So schufen die Nazis massenhaft für das Kapital unproduktive jüdische Armut. Der Kapitalismus vernichtete und vernichtet massenhaft unproduktive Armut, indem er die Armen mehr oder weniger sich selbst überlässt. Ein monströser Massenmord! Die modernen Sozialstaaten in den kapitalistischen Metropolen mildern den Terror gegen das nichtlohnarbeitende Proletariat etwas ab – aber nur SozialdemokratInnen kommen auf die Idee, die Tatsache, dass die entwickelten kapitalistischen Staaten ihre Armen nicht mehr massenhaft verhungern und erfrieren, sondern sie auf niedrigem Niveau dahinvegetieren lassen, als „zivilisatorische Errungenschaft“ zu feiern. Doch die Nazis waren keine SozialdemokratInnen, sie waren konsequente SozialdarwinistInnen. Nachdem sie den Jüdinnen und Juden die sozialökonomische Grundlage ihrer Existenz genommen hatten, vernichteten sie sie physisch. Die Nazis waren die ultrafanatischen Übertreiber jenes kapitalistischen Sozialdarwinismus, der sonst die Menschen durch die unsichtbare Hand des Marktes tötete und noch immer tötet.
Die physische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden begann mit dem Zweiten Weltkrieg. Das hatte sehr viel mit der ultrafanatisch-antijüdischen ideologischen Verklärung dieses imperialistischen Gemetzels durch die Nazis zu tun. Für diese stellte der Zweite Weltkrieg ein Endkampf zwischen „arischen Herrenmenschen“ und „jüdischen Untermenschen“ dar, wodurch die sozialökonomische Basis des Blutbades als militärischer Konkurrenzkampf zwischen imperialistischen Staaten extrem ideologisch verschleiert wurde. Als diese extrem irrationale Ideologie zur massenmörderischen Gewalt wurde, überlagerte sie auch den rationalen Zweck des Krieges, nämlich die konkurrierenden Staaten militärisch zu besiegen. Deportationszüge mit europäischen Juden in die Vernichtungsstätten erhielten Vorrang gegenüber militärischen Transporten.
Beim kapitalistisch-industriellen Massenmord verschmolz die Rationalität der Kapitalvermehrung untrennbar mit der massenmörderischen Irrationalität des fanatischen Judenhasses. Einige Juden wurden von der SS an das deutsche Kapital (z.B. Krupp) als SklavInnen verkauft, wo das „Judenmaterial“ zu Tode gearbeitet wurde. Aus Geld muss mehr Geld gemacht werden! Dass ist der massenmörderische kategorische Imperativ des Kapitals. Und wenn noch so viele Menschen sterben müssen! Wer zählt die Millionen SklavInnen und LohnarbeiterInnen, die das Kapital in seiner Geschichte weltweit zu tote gearbeitet hat?! Nein, der Massenmord des deutschen NS-Faschismus war kein Zivilisationsbruch, er war der bisher extremste Ausdruck der kapitalistischen Zivilisationsbarbarei.
Auschwitz als Zivilisationsbruch zu bezeichnen, heißt davon zu abstrahieren, dass sich das Kapital nur durch die Auftürmung von Leichenbergen vermehrte und vermehrt. In der Fabrik und auf den Schlachtfeldern unzähliger Kriege wurden in der Geschichte Millionen Menschen zum Wohle der Kapitalvermehrung umgebracht. In einer Geschichte voller Gemetzel ist das größte Gemetzel kein Zivilisationsbruch! Außerdem ist das Gerede vom „Zivilisationsbruch“ extrem eurozentristisch. Im Trikont (Asien, Afrika und Lateinamerika) wurden zum Wohle der europäisch-weißen kapitalistischen Zivilisation Menschen nichtweißer Hautfarbe massenhaft massakriert. Die IndianerInnen Nordamerikas wurden fast ausgerottet. Die Nazis haben ihren Massenmord mitten in Europa organisiert, das war das Neue. Außerdem nutzten sie für ihre Mordorgie die modernen kapitalistischen Produktivkräfte, die immer auch Zerstörungskräfte gegen das arbeitende Proletariat und die Natur waren und sind. Diesen Zusammenhang soll das moralisierende Gerede über den angeblichen „Zivilisationsbruch“ verschleiern. Der klebrige Moralismus dient auch hier der Verteidigung der alltäglichen kapitalistischen Zivilisationsbarbarei und seiner technokratischen Todesfabrikation.
Doch die materialistische Geschichtsbetrachtung zieht den moralisierenden Schleier, den die demokratisch gewendete Bourgeoisie von Auschwitz über den kapitalistisch-industriellen Massenmord als untrennbaren Teil ihrer Vergangenheit legt, erbarmungslos beiseite. Im Gegensatz zu vielen linken KleinbürgerInnen, die sich formal zum Marxismus bekennen, aber zu moralisieren anfangen wenn es richtig wehtut, halten wir gegen das unerträgliche bürgerliche Geschwätz, dass Auschwitz nicht erklärbar sei, daran fest, dass die materialistische Geschichtsbetrachtung auch den kapitalistisch-industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden erklären kann und muss. Die bürgerlich-idealistische Verklärung und Mythologisierung von Auschwitz dient nur der Bourgeoisie. Das Proletariat braucht Klarheit über die kapitalistische Welt, in der es schuftet, leidet und stirbt – aber eben auch lebt, liebt, lacht und kämpft!
Auschwitz verkörpert auf ideologisch extrem verzerrte Weise den Konkurrenz- und Klassenkampf von oben in einer der krisenhaftesten Zeiten des Kapitalismus, der seine Zivilisationsbarbarei extrem verschärfte, und in Deutschland in NS-faschistischer Form zugleich rational-technokratisch-kalt und irrational-ideologisch durchdrehend die Krise zu lösen versuchte. Durch den Judenhass wurde der Konkurrenzkampf auf völkisch-rassistische Art und Weise gelöst, eine für das Kapital unproduktive jüdische Armut geschaffen und diese technokratisch vernichtet, woran auch das Kapital verdiente. Und nicht nur das Kapital. Nach der Deportation der deutschen Jüdinnen und Juden wurden ihre Haushalte versteigert. An den Versteigerungen nahmen Menschen aller Klassen und Schichten teil. So stärkte sich die „Volksgemeinschaft“ als Scheinrealität und realer Schein durch den rassistischen Ausschluss der Juden als Beutegemeinschaft der Aasgeier. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es auch im NS-Faschismus vor dem Zweiten Weltkrieg den Klassenkampf deutscher ArbeiterInnen gab (siehe dazu Imperialistischer Krieg und proletarischer Klassenkampf, in: Schriften zum Klassenkampf III, Soziale Befreiung, Nürnberg 2014, S. 71-78.) Der NS-Antijudaismus stärkte schon während der Weimarer Republik den Kapitalismus ideologisch, indem er den „arischen schaffenden“ Industriekapitalismus gegen das „raffende jüdische Finanzkapital“ ausspielte.
Im Zweiten Weltkrieg triumphierte global der Klassenkampf von oben gegen das Proletariat. Das Proletariat tötete und wurde getötet im Interesse der einzelnen Nationalstaaten, die ihren blutigen Konkurrenzkampf ausfochten. Der kapitalistisch-industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden war Teil des imperialistischen Gemetzels. Der antifaschistische Imperialismus der staatskapitalistischen Sowjetunion und der privatkapitalistischen Demokratien machte vor dem Gemetzel seine Geschäfte mit dem NS-Faschismus auf Kosten des Proletariats, so wie er nach dessen Beginn seinen militärischen Konkurrenzkampf gegen die Nazis zum Leidwesen der proletarisierten und kleinbürgerlichen Menschen ausgefochten hatte. Die imperialistischen Demokratien bombardierten deutsche ZivilistInnen, aber nicht die antijüdischen faschistischen Massenmordzentren.
Auch der kapitalistisch-industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden verkörperte nicht nur auf die Art und Weise den ideologisch extrem verzerrten Klassenkampf von oben, indem er das von den Nazis völkisch-technokratisch geschaffene unproduktive jüdische Elend sehr zum Vorteil einiger Privatkapitale auslöschte. Die Nazis projizierten auch ihren nationalistischen Hass auf den „proletarischen Internationalismus“ der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung auf das gesamte Judentum. Der „proletarische Internationalismus“ war und ist stark beschränkt, weil er nicht konsequent den kapitalistischen Nationalismus hinter sich lässt. Deshalb ist er aus antinational-sozialrevolutionärer Sicht scharf zu kritisieren (siehe dazu die Kapitel I.2 und IV.2). Aber es muss auch bedacht werden, dass der „proletarische Internationalismus“ für viele jüdische ArbeiterInnen und Intellektuelle (Rosa Luxemburg, Karl Radek, Leo Trotzki…) in Osteuropa eine relativ progressive Form war, mit der sie ihre Nichtassimilation und den blutigen Antijudaismus verarbeiten konnten, ohne jüdische NationalistInnen (ZionistInnen) zu werden. Die Nazis projizierten ihren leidenschaftlich-krankhaften Hass gegen den proletarischen Internationalismus auf alle Juden, von denen viele in Westeuropa sich leidenschaftlich-reaktionär zu den Nationen bekannten, in denen sie lebten, oder jüdische NationalistInnen/ ZionistInnen waren. In seiner ersten „großen“ Rede vom 13. August 1920 teilte Hitler seinen ZuhörerInnen mit, dass er ein Judenfeind sei, weil „die Juden international sind, die Gleichheit aller Völker und die internationale Solidarität predigen, (und) es ihr Ziel ist, die Rassen zu entnationalisieren“ (siehe: E. Jäckel, Hitler als Ideologe, Calmann Levy 1973). Der kapitalistisch-industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden richtete sich auch ideologisch extrem verzerrt gegen den proletarischen Internationalismus.

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