„Kriegskommunismus“

Als „Kriegskommunismus“ werden sowohl von AntikommunistInnen als auch von verschiedenen Partei-„KommunistInnen“ die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse im bolschewistisch beherrschten Sowjetrussland zwischen 1918 und 1921 bezeichnet. Das ist natürlich eine ideologisch verklärende Bezeichnung für den sowjetrussischen Staatskapitalismus während des BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieges.
Wie wir bereits im Kapitel Von der Februar- zur Oktoberrevolution im Text Klassenkämpfe in Sowjetrussland (1917-1921) darlegten, war Sowjetrussland seit dem Frühsommer 1918 ein staatskapitalistisches Land. Unter den Bedingungen des BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieges entwickelte sich ein recht primitiver Staatskapitalismus. Die bolschewistische Regierung übernahm zwar offiziell den gesamten Warenverkehr, um zu überleben war die Bevölkerung aber auf die privaten Schwarzmärkte angewiesen. Produziert wurde fast ausschließlich für die Bedürfnisse des imperialistischen Krieges. Auch die Verkehrsinfrastruktur wurde durch den Krieg immer stärker zerstört, trotz der Sondervollmachten für das Verkehrskommissariat.
Zwischen dem bolschewistischen Staat und dem Industrieproletariat entwickelte sich während des BürgerInnenkrieges eine besonders primitive Form der Lohnarbeit, nämlich die des Naturallohnes. Zu dieser Form der Entlohnung ging das staatskapitalistische Regime wegen der gewaltigen Inflation über. Doch die „kommunistische“ Ideologieproduktion der Bolschewiki, mit der sie sich selbst und das Weltproletariat betrogen, umhüllte diesen primitiven Staatskapitalismus mit dem Glorienschein einer angeblich nachkapitalistischen Gesellschaft. So wurden die Not des BürgerInnenkrieges und der bürokratische Staatskapitalismus besonders von dem „linken Kommunisten“ Bucharin verklärt, der Inflation als die beginnende Abschaffung des Geldes und den Naturallohn als Aufhebung der Lohnarbeit „analysierte“.
Doch diese Ideologieproduktion hatte nicht das Geringste mit materialistischer Gesellschaftsanalyse zu tun. Geldentwertung ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung des Warentausches und der auf diesen Warentausch beruhenden Produktion. Das Geld vermittelt den Warenverkehr als verselbständigter Ausdruck des Tauschwertes. Es ist unmöglich das Geld wirklich abzuschaffen, aber die Warenproduktion aufrecht zu erhalten. Warenproduktion heißt Produktion voneinander unabhängiger kleinbürgerlicher und kapitalistischer PrivatproduzentInnen für den Austausch. Der Schneider produziert Anziehsachen und tauscht sie beim Bauern gegen landwirtschaftliche Produkte. In der „normalen“ Warenproduktion tauscht der Schneider seine Produkte gegen Geld als selbständigen Ausdruck des Tauschwertes und dann das Geld gegen landwirtschaftliche Produkte. Existiert eine starke Geldentwertung, so dass das Geld seine normale Vermittlungsfunktion des Warentausches nicht mehr ausüben kann, wird der Schneider seine Produkte direkt gegen landwirtschaftliche Produkte tauschen. Ist in diesem Fall das Geld wirklich unwiderruflich abgeschafft? Nein, es ist nur wegen einer vorübergehenden Entwertung für kurze Zeit aus dem Warenverkehr verschwunden. Denn seine Basis, voneinander getrennte PrivatproduzentInnen, die in erster Linie für den Tausch produzieren, also die Warenproduktion, existiert noch. Das Geld erleichtert den Warenaustausch und entwickelt sich mit diesem. Abschaffung des Geldes heißt Überwindung der Warenproduktion. Dass bedeutet Aufhebung einer Wirtschaft individueller PrivatproduzentInnen, welche für den Tausch produzieren. Das geht nur durch eine Assoziation freier ProduzentInnen, die als Kollektiv freier Individuen direkt und unmittelbar zur Befriedigung der Bedürfnisse produktiv tätig ist.
War das damalige Sowjetrussland ein Kollektiv freier Individuen, welches direkt und unmittelbar zur Befriedigung der Bedürfnisse produktiv tätig war?! Nein, es existierte ein totalitärer Staat, welcher die wichtigsten industriellen Produktionsmittel besaß und bürokratisch-hierarchisch verwaltete, und der mit den wenigen Produkten, über die er verfügte, einen primitiven Warentausch mit anderen gesellschaftlichen Kräften einging. Und zwar oft einen primitiven Naturaltausch, weil das Geld, über das der Staat verfügte, nichts wert war. Das damalige Sowjetrussland setzte also eine sehr primitive Warenproduktion in Gang.
Sicher, das Meiste was produziert wurde, waren keine Waren, also Produkte die der Staat gegen andere Produkte oder gegen Geld eintauschte, sondern Waffen. Das waren Produkte, die der sowjetische Staat vom Proletariat für den direkten Gebrauch, also zur Vernichtung seiner sozialreaktionären und revolutionären FeindInnen, herstellen ließ. Aber das änderte sich mit dem Ende des BürgerInnenkrieges. Der Staat wurde massenhaft zum Warenproduzenten, der für den einheimischen Bedarf und für den Weltmarkt produzierte.
Der Naturallohn während des BürgerInnenkrieges bedeutete auch nicht die Aufhebung der Lohnarbeit. Der Staat tauschte Naturalgüter gegen die Arbeitskraft des Proletariats, setzte also eine primitive Lohnarbeit in Gang. Bei der „normalen“ Lohnarbeit vermietet der/die Lohnabhängige seine/ihrer Arbeitskraft gegen Geld und kauft dann damit Konsumgüter. Das Geld vermittelt den Tausch zwischen Arbeitskraft und Konsumgütern. Während des BürgerInnenkrieges fiel das Geld massenhaft aus der Tauschoperation heraus, änderte aber nichts am Tausch zwischen Staat und Proletariat, nämlich Konsumgüter für Arbeitskraft. Es war schon ziemlich abgeschmackt von Bucharin die primitivste Form des Lohnes, den Naturallohn, als Überwindung der Lohnarbeit zu feiern! In Wirklichkeit stellte der Übergang zum Naturallohn auch eine Lohnkürzung dar. Bucharin war objektiv ein Ideologe, welcher einen primitiven Staatskapitalismus während eines imperialistischen Konkurrenzkampfes mit anderen bürgerlichen Kräften mit „kommunistischem“ Nebel umhüllte, von dem auch sein Gehirn beeinträchtigt wurde.
Doch dieser „kommunistische“ Nebel begann bis 1921, der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP, siehe zu dieser: Nelke, Der sowjetische Staatskapitalismus und Imperialismus 1917-1991, Bad Salzungen 2012, S. 9-12.), ein Eigenleben als ideologisches Traumreich zu führen. So wurden während des „Kriegskommunismus“ die Mieten abgeschafft, die Gebühren für staatliche Dienstleistungen (Post und Telefon, Gas, Wasser und Strom) nicht mehr erhoben und die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln und Güter des Massenkonsums beschlossen. Die Bolschewiki träumten während dieser Zeit auch von der Abschaffung der Geldsteuern…
Doch das Ende des „Kriegskommunismus“ 1921 war auch das Ende ideologischer Träume von der schnellen Abschaffung des Geldes. Nach Lenins Tod produzierte die staatskapitalistische Ideologie das Märchen von der „sozialistischen Warenproduktion“, die Rolle des Geldes als Vermittler des Warenverkehrs und der Geldlohn wurden nicht mehr in Frage gestellt.

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Auch die Beziehungen zwischen dem bolschewistischen Staat und den BäuerInnen waren während des BürgerInnen- und imperialistischen Interventionskrieges rau und primitiv. Bedingungen für einen zivilisierten kapitalistischen Austausch zwischen Staat und BäuerInnen waren auch in dieser Zeit nicht vorhanden. Zuerst wurden die BäuerInnen aufgefordert, das landwirtschaftliche Mehrprodukt zu Fixpreisen an den Staat zu verkaufen, doch dann tauschte das staatskapitalistische Regime ohne Geld Industrieprodukte gegen Getreide – weil sein Geld praktisch nichts wert war und er ideologisch von seiner „Abschaffung“ träumte. Der bolschewistische Staat konnte den BäuerInnen jedoch immer weniger Industriegüter im Austausch gegen landwirtschaftliche Produkte anbieten, weil er fast ausschließlich für den imperialistischen Krieg produzierte. Also ging er dazu über, durch die von ihm geschaffenen „Komitees der Dorfarmut“ und auf das Land geschickte Arbeiterbrigaden erbarmungslos das landwirtschaftliche Mehrprodukt bei den BäuerInnen zu requirieren. Manchmal nahm das staatskapitalistische Regime von den BäuerInnen auch mehr als das landwirtschaftliche Mehrprodukt, als es nämlich seit Anfang 1919 dazu überging genau vorzuschreiben, wie viel den BäuerInnen an Brot- und Futtergetreide wegzunehmen sei, was teilweise deren biosoziale Reproduktion gefährdete. Das einzige, was die BäuerInnen vom Lenin/Trotzki-Regime bekamen waren wertlose Kreditbillets.
Diese staatliche Politik gegenüber den BäuerInnen führte jedoch zu deren Widerstand, wie auch Helmut Altrichter schrieb: „Die Regierung schlug die Aufstände nieder. Vor allem gegen die ,grüne‘ Bewegung der Bauern am Mittellauf der Wolga ging man, wie jüngere, auf neuen Archivmaterialien fußende Untersuchungen gezeigt haben, mit schier unglaublicher Brutalität vor: mit dem Einsatz von 100 000 Mann, Flugzeugen, schwerer Artillerie und Giftgas, mit Hinrichtungen, Geiselnahme und der Deportation ganzer Dörfer. Die Reste des bäuerlichen Widerstandes brach die nachfolgende große Hungersnot, der Millionen zum Opfer fielen, bevor noch nationale und internationale Hilfe angelaufen war…“ (Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, a.a.O., S. 50.)
Doch auf den bäuerlichen Widerstand antwortete das staatskapitalistische Regime mit der „kommunistischen“ Ideologie nicht nur mit der Peitsche, sondern schließlich auch mit dem Zuckerbrot der „Neuen Ökonomischen Politik“, der für die Landwirtschaft den Übergang von den „willkürlichen“ Getreiderequirierungen zur normalen Naturalsteuer beziehungsweise Geldsteuer bedeutete – bis das Stalin-Regime 1929 zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und zur Liquidierung der KleinbäuerInnen als einer Schicht individueller ProduzentInnen überging…

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