Neue Broschüre: Globale Klassenkämpfe (2021/2022)

2. März 2023

Unsere neue Broschüre „Die Krise der biosozialen Reproduktion“ (ca. 138 Seiten) von Soziale Befreiung ist da. Die Broschüre könnt Ihr hier für 5-€ (inkl. Porto) über Onlinemarktplatz für Bücher booklooker.de oder direkt bei uns auch als E-Book bestellen.

Inhalt

Einleitung

1. Das produktive und „unproduktive“ Elend des Weltproletariats

2. Der Weltkapitalismus

3. Die Dynamik des weltweiten Klassenkampfes

4. Die globale institutionalisierte ArbeiterInnenbewegung

5. Klassenkonflikte im Gesundheitswesen und in der Pflege

6. Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst und in den Staatsapparaten

7. Klassenkämpfe in der Rohstoff-, Chemie- und Energiebranche

8. Kämpfe auf dem Bau

9. Konflikte in Bildung und Wissenschaft

10. Klassenkonflikte bei den Druckereien, Medien und Internetplattformen

11. Klassenauseinandersetzungen im Handel

12. Konflikte im Personen- und Güterverkehr (Logistik)

13. Auseinandersetzungen in der Metall- und Elektrobranche

14. Klassenkonflikte in der Finanzbranche

15. Kämpfe in der Agrarproduktion und der Lebensmittelindustrie

16. Klassenzusammenstöße bei Starbucks

17. Konflikte in der Reinigungsbranche

18. Auseinandersetzungen in der Textilbranche

19. Proletarischer Widerstand gegen Aufrüstung, Waffentransporte und Krieg

20. Branchenübergreifende Massenstreiks

21. Gesamtgesellschaftliche Protestbewegungen

22. Die mögliche soziale Weltrevolution

6. Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst und in den Staatsapparaten

Die staatlich dienenden Lohnabhängigen werden von dem dialektischen Widerspruch bestimmt, dass sie einerseits im Auftrag der Bourgeoisie teilweise gegen das klassenkämpferische Proletariat repressiv vorgehen, andererseits aber auch selbst einen Klassenkampf gegen die regierenden BerufspolitikerInnen um Löhne und Arbeitszeiten führen. Falls sich der gesamtgesellschaftliche Klassenkampf in außergewöhnlichen Situationen zur sozialen Revolution radikalisiert, ist die antipolitische Zerschlagung des Staates notwendig. Diese ist jedoch unmöglich, wenn sich nicht große Teile der staatlich dienenden Lohnabhängigen auf die Seite der Revolution stellen (siehe Kapitel 22). Konflikte zwischen den staatlich dienenden Lohnabhängigen und den regierenden BerufspolitikerInnen sind also für die weitere Entfaltung der Dynamik des globalen Klassenkampfes enorm wichtig.

Aus der Perspektive von Kapital und Staat sind für deren Reproduktion selbstverständlich staatstragende Gewerkschaften wichtig, die darauf achten, dass der Klassenkampf der staatlich dienenden Lohnabhängigen im Rahmen des Bestehenden bleiben. Das sich das deutsche Nationalkapital voll auf seine Gewerkschaften verlassen kann, zeigte unter anderem die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Bundesländer im Jahre 2021. Als die Seite der regierenden BerufspolitikerInnen verhandelte die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) und auf der Gewerkschaftsseite die DGB-Organisationen Verdi, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP), und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sowie die BeamtInnenorganisation dbb tarifunion. Die Bundesländer beuten durchschnittlich zwei Millionen staatlich dienende Lohnabhängige aus. Verhandlungen zum Tarifvertragsschacher fanden am 8. Oktober in Berlin, den 1./2. November und am 27./28. November 2021 jeweils in Potsdam statt.

Die Gewerkschaften gingen mit der Forderung nach fünf Prozent mehr Gehalt und einer Mindestlohnerhöhung von 150 Euro bei einer Laufzeit des Tarifvertrages von einem Jahr in die Verhandlungen. Außerdem forderte Verdi, dass die Beschäftigten des Gesundheitswesens im öffentlichen Dienst der Bundesländer tabellenwirksam 300 Euro mehr Lohn pro Monat erhalten sollten. Für die Auszubildenden wurde eine Erhöhung der Vergütungen um 100 Euro verlangt. Auch strebte Verdi mit den Bundesländern einen separaten „Verhandlungstisch“ zum Gesundheitswesen an.

Während des Tarifvertragsschachers organisierten die Gewerkschaften ein paar Warnstreiks, damit der Druck der Basis kanalisiert und kontrolliert abgelassen werden konnte. So zum Beispiel die Gewerkschaft Verdi in Nordrhein-Westfalen. Am 9. November 2021 legten die Beschäftigten der dortigen Unikliniken in Düsseldorf, Essen und Köln die Arbeit nieder. Am 10. November organisierte Verdi Streiks an den Kliniken in Bonn und Münster. Außerdem organisierte die Gewerkschaft ebenfalls am 10. November einen bundesweiten Warnstreik von Nachwuchskräften im öffentlichen Dienst der Länder.

Auch organisierten die Gewerkschaften GEW und Verdi unabhängig voneinander – die Bonzen dieser Gewerkschaften ließen ihre Mitglieder noch nicht einmal gemeinsam die Arbeit niederlegen – in der zweiten Novemberwoche Streiks von ErzieherInnen, Lehrkräften und Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Berlin. So rief Verdi MitarbeiterInnen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) zu einer achttägigen Arbeitsniederlegung auf, die am 10. November begann. Am 11. November rief die GEW zu einem Warnstreik auf. Am 16. November (Gesundheitstag) organisierte Verdi flächendeckende Streiks im Gesundheitswesen der Bundesländer. Außerdem organisierten die Gewerkschaften am 25. November 2021 noch einmal Warnstreik und Demonstration in Berlin, an der 4.000 KollegInnen teilnahmen.

Nachdem die Gewerkschaftsbonzen ein wenig streiken ließen, einigten sie sich mit den regierenden BerufspolitikerInnen der Bundesländer am 29. November 2021auf einen Tarifvertrag, der ein Reallohnverlust für die Lohnabhängigen bedeutete. Wieder einmal zeigte es sich, wie wichtig Gewerkschaften für ein funktionierendes Nationalkapital sind. Die im Tarifvertragsschacher aufgestellte Forderung nach einer finanziellen Gleichstellung von angestellten und verbeamteten LehrerInnen wurde fallengelassen wie eine heiße Kartoffel. Auch im Gesundheitswesen der Bundesländer wurde durch den Tarifvertrag keine generelle Lohnerhöhung erreicht. Die Gewerkschaftsbonzen setzten lediglich verbesserte Zulagenregelungen für bestimmte Bereiche durch. Generell bekamen die Lohnabhängigen des öffentlichen Dienstes 2,8 Prozent mehr Geld und eine steuerfreie Eimalzahlung von 1.300 Euro. Und dies bei einer Laufzeit des Tarifvertrags von 24 Monaten (1. Oktober 2021 bis 30. September 2023). Die nach dem Tarifvertragsschacher erst richtig einsetzende Inflation fraß die mickrige Lohnerhöhung vollständig und noch viel mehr auf.

Der Verdi-Apparat ließ, nachdem er erfolgreich zusammen mit der Regierungspolitik der Bundesländer einen gewaltigen Reallohnverlust organisiert hatte, ein wenig Gewerkschaftsdemokratie spielen. Er ließ, gnädig wie er ist, eine unverbindliche Mitgliederbefragung zu. Und am 17. Dezember 2021 beschloss die Verdi-Bundestarifkommission endgültig den erfolgreichen Angriff auf den Geldbeutel der Mitglieder. Auch die GEW zeigte sich so staatsmännisch wie sie ist und nannte auf einer Pressemitteilung vom 29. November 2021 den Tarifvertrag einen „verantwortungsvollen Abschluss in schwieriger Corona-Zeit“ (zitiert nach LabourNet Germany). Klar, es war ganz schwer für die regierenden Charaktermasken des kapitalistischen Staates. Da muss eine verantwortungsbewusste Gewerkschaft schon mal einen Reallohnverlust der staatlich dienenden Lohnabhängigen mit organisieren.

Auch in diesem reproduktiven Klassenkampf entfaltete sich bereits der Gegensatz zwischen den Gewerkschaftsapparaten und „ihrer“ lohnabhängigen Basis. An diesen knüpfen proletarische RevolutionärInnen an, ohne sich jedoch an die Kapital und Staat reproduzierenden Grenzen und das sozialreformistische Bewusstsein des innergewerkschaftlichen Protestes anzupassen.

So hieß es in einer Resolution der Verdi-Basisgruppe Botanischer Garten Berlin vom 7. Dezember 2021: „In der Tarifrunde der Länder (TV-L) haben sich Gewerkschaften und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) auf ein Verhandlungsergebnis geeinigt. Bis zum 22.12.21 sollen Mitgliederbefragungen in den Betrieben und Dienststellen stattfinden. Die Option ,weiterstreiken‘ ist in der Abfrage nicht vorgesehen! Tarifeinigung: Inflation frisst Lohnerhöhung! (…)

Durch den Reallohnverlust wird der öffentliche Dienst eine Abwertung, statt der notwendigen Aufwertung erfahren! Gravierend negative Folgen inklusive: Aus den Verwaltungen im öffentlichen Dienst wird jetzt schon berichtet, dass die Bewerberlage für Stellenangebote schlecht ist. Viele Beschäftigte wandern in die Privatwirtschaft ab. Aber nicht nur Beschäftigte leiden unter der mangelnden Ausfinanzierung, sondern alle Menschen, die von der öffentlichen Daseinsvorsorge abhängig sind: Studierende, Schüler, Kinder, Eltern, Pflegebedürftige, Geflüchtete etc. Stimmen wir für den Reallohnverlust, dann beteiligen wir uns auch daran, dass der öffentliche Dienst weiter an Kraft und Bedeutung verliert. Neoliberale Kräfte verwenden dann mangelnde Qualität als Folge der schlechten Ausfinanzierung als Argument für weitere Ausgliederungen! Mit den Ausgliederungen verliert die Politik Steuerungsmöglichkeiten und WählerInnen demokratischen Einfluss. (…)

(Anmerkung der Nelke: Hier haben wir die staatsreproduzierende Grenze des reproduktiven Klassenkampfes und -bewusstseins vor uns. Die KollegInnen hegen noch große selbstentwaffnende Illusionen in das demokratische Regime ihrer AusbeuterInnen. Sie kämpfen für eine Verbesserung des öffentlichen Dienstes, aber (noch?) nicht bewusst gegen den Staat als politischen Gewaltapparat der Kapitalvermehrung. Natürlich bekämpfen auch proletarische RevolutionärInnen die konkrete Wirtschaftspolitik in der strukturellen Profitproduktionskrise (siehe Kapitel 2) – Privatisierung der Gewinne, Verstaatlichung der Verluste –, aber sie schüren keine Illusionen in den Staatssektor.)

Dass GEW und Verdi nicht einmal zu gemeinsamen Streiks aufgerufen haben, lässt uns vermuten: Es wäre mehr drin gewesen. Wie kann man die vorliegende Einigung als alternativloses Resultat gegenseitigen Kräftemessens repräsentieren, wenn die Kräfte auf Gewerkschaftsseite durch gemeinsame Streiks zu keinem Zeitpunkt gebündelt wurden? (…)

Das Totschlagargument der geringen ,Durchsetzungskraft‘ bzw. des geringen ,Organisationsgrades‘ muss in Frage gestellt werden. Wie sollen wir neue Mitglieder gewinnen, wenn die Gewerkschaft nicht im Ansatz zeigt, dass sie bereit ist, für die Durchsetzung ihrer Forderungen zu kämpfen, sondern schnellstmöglich den erstbesten (oder besser gesagt erstschlechtesten) faulen Kompromiss eingeht. (…)

Wir erteilen der Tarifeinigung mit Reallohnverlust für die Beschäftigten, die den Laden am Laufen halten, eine klare Absage! Ebenso kritisch sehen wir die Verfahrensweise und die demokratischen Prozesse: In der Multiple-Choice-Umfrage zum Verhandlungsergebnis können Verdi-Mitglieder die Option ,Weiterstreiken‘ nicht einmal ankreuzen. Gleichzeitig wird die Coronapandemie als Argument gegen Erzwingungsstreiks genutzt. Wir sagen: Die Pandemie ist das Argument zum Weiterstreiken!

Unsere Forderungen! Die Verdi-Basisgruppe des Botanischen Gartens Berlin fasste am 07.12.2021 nachfolgende Beschlüsse: Wir fordern die Gewerkschaften dazu auf eine Mitgliedsbefragung durchzuführen, bei der die Option des Erzwingungsstreiks vorgesehen ist. Wir rufen Betriebs- und Unterstützungsgruppen dazu auf, ebenfalls entsprechende Beschlüsse zu fassen und diese an die Bundestarifkommission zu senden und zu veröffentlichen.“ (Zitiert nach LabourNet Germany).

Diese Resolution machte den Klassengegensatz zwischen der Basis und dem Apparat von Verdi deutlich. Die KollegInnen appellierten allerdings noch an die Gewerkschaftsbonzen einen radikaleren Klassenkampf zu führen. Proletarische RevolutionärInnen treten grundsätzlich dafür ein, das Streikmonopol der bürgerlich-bürokratischen Gewerkschaftsapparate durch die gewerkschaftsunabhängige klassenkämpferische Selbstorganisation in Form von wilden Streiks zu brechen. Dies erfordert jedoch eine hohe Reife des Klassenkampfes und des -bewusstseins, was eher in einzelnen Betrieben als in ganzen Branchen erreicht werden kann. Nur im verschärften Klassenkampf ist es möglich, dass der Klassengegensatz zwischen den Lohnabhängigen und den bürgerlichen Gewerkschafsbonzen eine solche offensichtliche Tiefe erreicht, dass gewerkschaftsunabhängige Streikkomitees einer ganzen Branche entstehen, die das Streikmonopol dieser sozialreaktionären Apparate in der Praxis brechen. Darauf vorzubereiten, das entspricht der Tätigkeit von proletarischen RevolutionärInnen. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Gewerkschaften, die für einen Reallohnverlust streiken lassen, taugen noch nicht mal für einen reproduktiven Klassenkampf. Sie können das Klassenbewusstsein, dass das bewusste Sein des kollektiven Kampfes der Klasse ist, nur ersticken.

Den Gewerkschaftsbonzen allerdings vorzuwerfen, sie würden sich nicht „aktiv“ und „kämpferisch“ genug für „ihre“ Basis einzusetzen – also den Job des Sozialreformismus nicht effektiv genug ausüben –, kann nur die Gewerkschaftskette und die reproduktiven Grenzen des Klassenkampfes reproduzieren. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die revolutionäre Zerschlagung der Gewerkschaftsapparate absolut notwendig ist, wenn sich das Proletariat grundsätzlich von kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Elendsverwaltung befreien will. Dieser mehrheitliche Wille der Klasse kann als bewusster Ausdruck des revolutionären Prozesses allerdings auch nur im und mit diesem, jedoch nicht davor sich herauszubilden. Aber damit dies vielleicht irgendwann einmal geschieht, müssen SozialrevolutionärInnen den absolut reaktionären Charakter der Gewerkschaften schon heute deutlich betonen und allen reformistischen Illusionen in diese Gebilde kompromisslos entgegentreten.

In Brasilien traten die SteuerbeamtInnen am 28. Dezember 2021 in den Bummelstreik. Davor hatte die regierende Charaktermaske des Staates, der Rechtsreaktionär Bolsonaro, die Bezüge der offiziellen Hooligans der Militär- und Bundespolizei sowie der GefängniswärterInnen erhöht, während die anderen KollegInnen des öffentlichen Dienstes leer ausgingen. Dagegen richtete sich der Bummelstreik der SteuerbeamtInnen. Sie machten Dienst nach Vorschrift bei der Überprüfung der Lebensmittelvorschriften und der Zollabfertigung. Bestandteil des Bummelstreiks war, dass die BeamtInnen „nur“ 8 Stunden am Tag arbeiteten. Sonst sind Überstunden die Regel, aber die wurden jetzt verweigert. Das führte zu langen Schlangen von LKWs an den Grenzposten in Südbrasilien. Dort werden Waren aus Argentinien, Chile und Paraguay importiert.

Das verzögerte die Zirkulationsperiode vieler Einzelkapitale – in dieser Periode wird Geld- in gegenständliches produktives Kapital (Produktionsmittel) beziehungsweise Waren- in Geldkapital (Verkauf der Produkte) verwandelt. Die Verlängerung der Zirkulationsperiode des Kapitalumschlags führte zu Profitverlusten. Der Bummelstreik der SteuerbeamtInnen wirkte also. Bereits 48 Stunden nach dessen Beginn führten die Verzögerungen zu einer Verringerung der Fleischproduktion um 60 Prozent. So protestierten dann auch zwei „Arbeitgeber“-Verbände, die Exporteure von Fleisch und die Betreiber von Kühlhäusern, gegen diese aus Kapitalsicht „illegalen“ Verzögerungen. Die den Bummelstreik organisierende Gewerkschaft Anfa Sindical betonte dagegen, dass sie streng im Rahmen der Legalität agierte. Ja, so etwas ist für Gewerkschaftsapparate sehr wichtig.

Die Gewerkschaft Anfa Sindical forderte die Aufstockung des Personals und „eine gerechtere Verteilung der Lohnerhöhungen“ im öffentlichen Sektor. Letzteres war purer Moralismus, denn Lohnarbeit hat grundsätzlich etwas mit Ausbeutung, aber absolut gar nichts mit „Gerechtigkeit“ zu tun.

Die erste Reaktion der SteuerbeamtInnen auf Bolsonaros Erhöhung der Bezüge ausschließlich der Repressionskräfte war eine Kündigungswelle (siehe auch Kapitel 14 über den Streik der Angestellten der Zentralbank dagegen).

In Belgien entfaltete sich am 31. Mai 2022 im öffentlichen Dienst des Landes ein eintägiger Generalstreik. Dazu aufgerufen hatten die Apparate der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst CGSP und FGTB. Der Ausstand stand unter dem moralistischen Motto „Wir bekommen weder die Mittel, noch den Respekt, den wir verdienen!“ Für das Kapital sind alle Lohnabhängigen strukturell nur Ausbeutungsmaterial. Es ergibt nicht viel Sinn, wenn ProletarierInnen von der Bourgeoisie – einschließlich der den Staat managenden BerufspolitikerInnen – „Respekt“ einfordern. Wenn die Gewerkschaftsbonzen von Kapital und Staat „Respekt“ einfordern, dann sagen sie faktisch: Gebt euch mehr Mühe, um die Gewerkschaften und über sie die Belegschaften in das Nationalkapital zu integrieren. Verwirklicht diese Integration vor allem auf einem materiell höheren Level.

Doch auch staatlich dienende Lohnabhängige werden vom Staat objektiv-strukturell als Kostenfaktor behandelt, bei dem es vor allem zu sparen gilt. Auf diesen Fakt weisen proletarische RevolutionärInnen hin, um praktisch-geistige Impulse zur Radikalisierung des Klassenkampfes zu geben. Sie fordern nicht Respekt für die Lohnabhängigen von Staat, sondern machen deutlich, dass der letztere ein struktureller Klassenfeind ist. Diese Radikalisierung des Klassenbewusstseins und des Klassenkampfes zum bewussten Fight gegen den Staat als Ausbeuter versuchen die Gewerkschaftsapparate mit aller Gewalt zu verhindern – auch mit Moralausdünstungen, die jedoch die staatlich dienenden Lohnabhängigen praktisch-geistig genau als solche reproduzieren. Um sich aus dieser Rolle zu befreien, müssen sie den Staat antipolitisch zerschlagen.

Doch das wollen die Gewerkschaften nicht. Sie haben „Respekt“ gegenüber dem Staat. Diesen bringen sie auch zum Ausdruck, wenn sie ihre lohnabhängige Basis begrenzt für reproduktive Ziele mobilisieren. So forderten die beiden Gewerkschaften vom Staat mehr „Kaufkraft“ – was auch gut für das Kapital ist, welches in der Konsumgüterindustrie angelegt ist –, mehr „Respekt für den sozialen Dialog“, womit sie natürlich wundervoll den Klassengegensatz zwischen den kapitalistischen Staat und den von ihm ausgebeuteten Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst verkleistern. Und „mehr Respekt“ verlangen die Gewerkschaftsbonzen auch für die Renten der staatlich dienenden Lohnabhängigen. Innerhalb dieser den Staat und das Kapital reproduzierenden Grenzen ließen CGSP und FGTB an jenem 31. Mai 2022 im Verkehr, bei den BürgerInnendiensten und in den Schulen streiken. Wahrlich, die Gewerkschaften haben den „Respekt“ des Staates redlich verdient…

In Südafrika wurde am 17. August 2022 die Demonstration der ArbeiterInnen der Kommunalbetriebe und der Verwaltung des Bezirks Steve Tshwete in Middleburg brutal von den Bullen des herrschenden ANC-Regimes und privaten Sicherheitsdiensten angegriffen. Die KollegInnen kämpften seit März 2022 für die Einhaltung des Tarifvertrages, der 2021 ausgehandelt wurde, und für die Anhebung der Gehaltsstufen. Das ANC-Regime ging bereits im April 2022 repressiv gegen die Kommunalangestellten vor. 13 Lohnabhängige wurden wegen einer Arbeitsniederlegung vom Dienst suspendiert. Im Juli wurden weitere 100 klassenkämpferische Kommunalangestellte entlassen. Dagegen richtete sich die Demonstration vom 17. August 2022, bei der das Regime wieder mal seine blutige Fratze zeigte. Dessen Hooligans schossen auf die demonstrierenden KollegInnen, als diese versuchten in das Verwaltungsgebäude von Steve Tshewete zu gelangen. Dabei starb ein Mensch noch am Ort des Geschehens, ein weiterer erlag später im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Zwei weitere Menschen wurden verwundet.

Aus dieser abermaligen blutigen Lektion ist klar folgende Schlussfolgerung zu ziehen: Das ANC-Regime ist gegen das klassenkämpferische Proletariat nicht weniger brutal als das frühere rassistische Apartheid-Regime! Nationale „Befreiung“ ist untrennbarer Teil der kapitalistischen Sozialreaktion! Nur durch die soziale Revolution kann sich das Proletariat aus Ausbeutung und Unterdrückung befreien!

Sehr bedeutend für die Entwicklung einer klassenkämpferischen Solidargemeinschaft zwischen den staatlich dienenden Lohnabhängigen und dem migrantischen Proletariat war der Protest gegen die repressive Abschiebepraxis des britischen Staates. Dieser will seit Juni 2022 Asylsuchende aus Ruanda noch während ihres Verfahrens dorthin abschieben. Der erste Abschiebeflug im Juni wurde noch gerichtlich unterbunden. Doch am Ende des Jahres änderte sich die rechtliche Situation. Die Justiz des Landes gab der Exekutive grünes Licht. Am 19. Dezember 2022 erklärte ein Gericht diese Verschärfung der Repression für rechtmäßig. Diese würde nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen.

Doch die Lohnabhängigen leisteten Solidarität mit den MigrantInnen. Die Basismitglieder der Gewerkschaft der RegierungsbeamtInnen und des öffentlichen Dienstes, Public and Commercial Service Union (PCS), protestierten gegen diese brutale Form der staatlichen Repression und der Apparat musste mitziehen. Auch die Transportarbeitergewerkschaft RMT war bereit, diese Abschiebungen zu behindern. An dieser Solidarität der Lohnabhängigen scheiterten die Versuche des britischen Staates, im August und Oktober 2022 MigrantInnen nach Ruanda abzuschieben. Die ArbeiterInnen, die diese Flüge abfertigen sollten, spielten nicht mit und die Gesellschaft, die die Flüge hätte durchführen sollen, kündigte den Vertrag auf. Durch diese widerständische Solidarität konnten bis Ende des Jahres 2022 Abschiebungen nach Ruanda verhindert werden.

Auch nach der juristischen Absegnung der Abschiebung nach Ruanda „bleibt sie“ für die Gewerkschaft PCS „moralisch verwerflich und absolut unmenschlich, und die PCS fordert das Innenministerium auf, das anzuerkennen und aufzugeben.“ Diesen moralistischen Appell an den politischen Gewaltapparat der Bourgeoisie, verband die staatstragende PCS mit einem Bekenntnis zu einer grundsätzlichen Kooperation mit dem Staat: „Wir möchten, dass das Innenministerium seine feindselige Haltung gegenüber Flüchtlingen aufgibt, um mit uns zusammenarbeitet, um ein humanes System aufzubauen.“ (Zitiert nach: Dieter Reinisch, Streiks gegen Abschiebungen, in: junge Welt vom 27. Dezember 2022, S. 15.)

SozialrevolutionärInnen betonen im Gegensatz zu reformistischen Gewerkschaftsbonzen, dass soziale Emanzipation nicht mit dem Staat, sondern nur gegen ihn zu erkämpfen ist. Letztendlich nur durch seine antipolitische Zerschlagung (siehe Kapitel 22).

Der Trotzkist Dieter Reinisch schürte in der linksreaktionären Tageszeitung junge Welt Illusionen in die sozialreformistisch-staatstragende PCS: „Mit ihren rund 235.000 Mitgliedern ist die PCS die sechstgrößte britische Gewerkschaft, und sie zählt zu den kämpferischen. Serwotka ist seit 2005 Generalsekretär. In den 1980ern war der jetzt 59jährige Mitarbeiter der trotzkistischen Wochenzeitung Socialist Organiser, danach im Wahlbündnis ,Socialist Alliance‘ aktiv und später in der Partei ,Respect‘, die 2004 als Abspaltung von Labour aus der Bewegung gegen den Irakkrieg entstand.“ (Dieter Reinisch, Streiks gegen Abschiebungen, a.a.O.)

Wir sehen hier deutlich, wie der Trotzkismus als dekadente parteimarxistische Politideologie (siehe Kapitel 4) mit seinem Gewerkschaftsreformismus nur Kapital und Staat reproduzieren kann. Dagegen orientieren wir klar auf die antipolitisch-sozialrevolutionäre Zerschlagung des Staates.

Die PCS organisierte auch die Streiks der britischen Grenzschutzbehörden im Dezember 2022. Viele von ihnen werden an Passkontrollen an See- und Flughäfen eingesetzt. Ein erster Ausstand entfaltete sich vom 23. bis zum 26. Dezember. Außerdem legten die KollegInnen vom 29. bis zum 31. Dezember 2022 die Arbeit nieder. Sie streikten für zehn Prozent Lohnerhöhung, „Rentengerechtigkeit“, „Arbeitsplatzsicherheit“ (also auch sozialkonservativ für die Existenz von Staaten und deren Grenzen) und den Verzicht auf Kürzungen bei Entlassungen. Der Ausstand betraf die Flughäfen in Birmingham, Cardiff, Catwick, Glasgow, Heathrow und Manchester sowie den Hafen von Newhaven.

Der britische Staat setzte während dieses Klassenkampfes der Grenzschutzbehörden SoldatInnen als Streikbrecher ein. Der britische Staatssender BBC zitierte am 29. Dezember 2022 einen Sprecher des Flughafens Heatrow, dass die Einreisehallen „frei zugänglich“ seien und der Flughafen „keine Probleme“ hätte. Einige Tage vor dem Streik konnte mensch im Guardian lesen, dass die kurzfristig zu Streikbrechern ausgebildeten SoldatInnen und BeamtInnen angehalten worden seien, die Menschen nicht aufzuhalten, „es sei denn, es gebe Hinweise auf eine Straftat“. Der Kommentar von PCS-Generalsekretär Mark Serwotka in einer Mitteilung der Gewerkschaft: Die Regierung habe sich gebrüstet, es gebe keine Warteschlangen bei der Passkontrolle, „aber natürlich gibt es keine Warteschlangen, wenn niemand angehalten wird.“ (Alle Zitate aus: Militär kontrolliert, in: junge Welt vom 30. Dezember 2022, S. 9.)

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